Filmkolumne

DDR-Kino: Die Honeckers müssen diesen Film gehasst haben

Der Regisseur Heiner Carow blickte in „Ikarus“ 1975 ohne Weichzeichner auf Ost-Berlin. Der Film, der mit den Jahren immer besser wird, ist nun im Filmmuseum Potsdam zu sehen. Eine Kolumne.

Peter Aust (als Vater) und Peter Welz (als Matthias) in „Ikarus“ (1974/75)
Peter Aust (als Vater) und Peter Welz (als Matthias) in „Ikarus“ (1974/75)DEFA-Stiftung/ Norbert Kuhröber

An seinem neunten Geburtstag durchlebt Mathias eine urbane Odyssee sondergleichen. Er schwänzt den Schulhort, durchkreuzt den Prenzlauer Berg, schlägt sich bis zum Flughafen Schönefeld durch, wo er mitten auf dem Rollfeld von der Volkspolizei dingfest gemacht wird.

Am Alexanderplatz entkommt er dem netten Kommissar, der ihn bei seinen Eltern abliefern will und schlägt sich allein nach Hause durch. Dort erwarten ihn Mutter, Vater und Oma – ahnungslos, was Mathias alles durchgemacht hat. Sie kennen ihr Kind nicht, ahnen nicht, dass dessen verzweifelte Fluchtimpulse nur ihnen gelten. Mathias ist auf der Suche nach Zuwendung, Verständnis, Liebe. Ein uneingelöstes Versprechen des Vaters wurde für ihn zum Impulsgeber für diesen Ausbruchsversuch.

„Ikarus“ ist Heiner Carows bester Film, er ist auch eine der stärksten DEFA-Produktionen überhaupt. 1975 im „kleinen Tauwetter“ nach der Entmachtung Walter Ulbrichts entstanden, legt er mit den Jahren immer neue Qualitäten frei – er altert nicht, er wird sogar immer besser.

Jetzt wird er im Rahmen einer begleitenden Filmreihe zur Ausstellung „Sonne. Die Quelle des Lichts“ des Museums Barberini im Filmmuseum Potsdam gezeigt. Eine feinfühlige, nur auf den ersten Blick paradoxe Kuratierung: Denn in „Ikarus“ geht es vor allem um die Abwesenheit von Licht. An jenem düsteren Wintertag ist Mathias verzweifelt auf der Suche nach Sonne, symbolisch wie konkret. Irgendwo hinter den grauen Wolken am geteilten Himmel über Berlin muss doch die Sonne sein! Und mit der Sonne wird auch die Liebe seiner Eltern wieder zurückkehren, daran glaubt Mathias bis zuletzt.

Filmmuseum Potsdam
Filmmuseum PotsdamOlaf Döring/IMAGO

Die Wiederaufführung von „Ikarus“ kommt zum richtigen Zeitpunkt

Die Honeckers müssen diesen Film gehasst haben. Das Porträt Erichs hängt drohend in den Amtsstuben, in den Schulräumen Margots finden Demütigungsrituale an renitenten Schülern statt. Nun kommt „Ikarus“ als Wiederaufführung zur rechten Zeit.

Er zeigt mit nahezu jedem Filmmeter die Enge dieses halben Landes und die Selbstbeschränkung der hier eingezwängten Menschen. Er zeugt durch seine Existenz aber auch von erheblichem Widerstandsgeist. Dieser war praktizierbar, zumindest zeitweilig, sogar von einem Prominenten wie Heiner Carow, der – wie die allermeisten DDR-Filmschaffenden – auch Mitglied der SED war.

Nach dem Sensationserfolg von „Die Legende von Paul und Paula“ (1973) wechselte er ganz bewusst seine Tonlage, verband sich mit Unangepassten wie Inge Wüste-Heym (Dramaturgie), Klaus Schlesinger (Buch) und Bettina Wegner (Lieder), um diesen wunderschönen, traurigen, und zutiefst empathischen Film zu schaffen.

Wenige Monate nach Kinostart verschwand „Ikarus“ aus den Kinos der DDR. „Uns allen ist bekannt, dass die BRD das kinderfeindlichste Land ist. Wir dürfen keine Filme zeigen, in denen dem Zuschauer klargemacht wird, dass es die Kinder in der DDR auch nicht einfach haben“, notierte später das ZK-Mitglied Hans-Dieter Mäde, ab 1976 Generaldirektor des DEFA-Spielfilmstudios. Herr Mäde ist heute vergessen. Heiner Carows Film bleibt und reift weiter.

Heiner Carow: Ikarus. Filmmuseum Potsdam, im Rahmen der Reihe „Sonne. Die Quelle des Lichts im Film“, am 21. Mai um 18 Uhr.