Wenn Frühjahr ist, beobachte ich die Waldameisen. Ich hocke mich vor das Nest im Wald und lasse meinen Blick im Wimmeln dieser namenlosen Staaten verloren gehen. Und ich bin, ohne Ausnahme, fasziniert. Dieses Chaos, das wie in unserem Universum gar kein Chaos ist, sondern ein System, eine Ordnung, die wir Menschen nur nicht verstehen und sie deswegen als „Durcheinander“ beleidigen.
Diese kleinen Körper mit ihren schwarzen Köpfen, die rote Mitte. Manche haben Flügel, damit sie sich auf den Weg machen können, die Kolonie zu vergrößern, manche sind mit einem großen Gebiss ausgestattet, um damit zu kämpfen oder Holz zu zernagen. Andere tragen Reiskörner oder die Kinder, die Nachkömmlinge, wild umher. Und irgendwo in der Mitte dieses handwarmen Baues, der im Winter und Sommer die immer gleiche Temperatur hat, pulsiert eine Königin und gebärt. Das alles weiß ich, wenn ich diese imposanten Hügel, diese einzigartigen Meisterwerke tierischer Architektur betrachte. Und es beruhigt mich, die Gewissenhaftigkeit dessen, was sie tun. Das fehlende Bewusstsein, warum sie es tun, hat auf mich eine außerordentlich beruhigende Wirkung.
Ameisen fragen sich nicht, warum sie jeden Morgen zur Arbeit gehen, sie folgen nur der Spur eines Pheromons. Das Glück einer Ameise ist, nicht zu wissen, was die Alternativen sind.
Jesus ist der Familie Mischke nicht so wichtig
Diese seit 200 Jahren unter Naturschutz stehenden Insekten, die vielen Menschen Angst machen, weil sie beißen, weil sie eben in diesen großen Kolonien an sonnenwarmen Kiefern lauern und unachtsamen Wanderern in die Sommerkleidung krabbeln, wohnen auf dem Gartengrundstück meiner Eltern. Unter einer beschnittenen Douglasie, im Halbschatten, auf sandigem Grund. Sie wohnen da und machen Lärm. Das feine Rascheln ihrer noch feineren Füßchen, ich kann es bis an den gedeckten Tisch hören. Als würden winzige Menschen auf noch winzigerem Popcorn herumlaufen. Ein Knistern, das nur die Natur erzeugen kann.
Ich beobachte sie dort am Ostersonntag, während im Hintergrund mein Vater versucht, mit einer kaputten Axt Feuerholz zu schlagen und meine Mutter wie im Zirkus mit Geschirr jongliert. „Schlag dir nicht die Finger ab“, sage ich zu meinem Vater, der jetzt versucht, mit unbeholfenen Sprüngen, die Axt in der einen Hand, das Geäst zu verkleinern.
Es ist Ostersonntag, Jesus ist auferstanden. Mein Bruder und ich sind früh aufgestanden, damit wir dieses Fest, das in meiner Familie nur emotional eine Rolle spielt, feiern können. Jesus ist der Familie Mischke nicht so wichtig, Kirchensteuer zahlen nur die anderen.
Wir sitzen dort und haben uns daran gewöhnt, dass in der Ukraine Krieg ist, die Welt immer noch an einer Pandemie leidet, über die Kriege im Jemen reden wir nicht, und an die Tigray in Äthiopien denken wir erst gar nicht. Dafür sprechen wir über Ameisen. Mein Vater liest einen Artikel des Nabu vor, der davon abrät, Ameisen mit Natron zu verjagen. „Sie essen das Natron und explodieren dann“, sagt er und guckt mich verlegen an. Ich vermute, dass er vorhatte, die Ameisen mit Natron zu verjagen.
Gut ist nicht mehr das Morgen, sondern das Gestern
Es ist ein dumpfer Ostersonntag, weil ich weiß, dass ich eine Woche später nach Afghanistan fahren werde, für eine Reportage über ein Land, das erst sehr viele Menschen beschäftigt hat und dann kaum noch jemanden. Ein Land, das Flüchtende generiert, wie es die Ukraine tut. Ich will mich mit Taliban treffen, ich will verstehen, warum sie sich gegen die Moderne, aber für einen Staat entschieden haben. Ich will auch verstehen, warum unsere Aufmerksamkeitsspanne so gering ist. Warum wir Abermillionen von Spendengeldern und unmessbare Hilfsbereitschaft generieren können, nur um dann doch wieder zu vergessen. Es macht mich nicht traurig oder erschöpft, nein, es lässt mich nur immer wieder an die Ameisen denken.
Und an all die Staaten mit Namen, die Kolonien auf dieser Welt, die nicht dem Pheromon folgen, sondern anderen Instinkten, dem Wissen, was einem Volk wohl gut tun würde, der Annahme, einem Volk zu sagen, was ihnen eine gute Zukunft verspricht.
Da sind die Männer und Frauen, manchmal auch Kinder, die gut schießen können, die einen Staat vergrößern. Die nicht mehr nach dem Warum fragen. Die Beißwerkzeuge des modernen Menschen sind die Drohungen, die wir jetzt jeden Tag hören. Sie werden so oft wiederholt, bis auch sie zu einem Instinkt werden, zu einem Gefühl, im Recht zu sein. Richtig sind sie trotzdem nie, denn am Ende vernichten wir nicht nur den Bau fremder Menschen, sondern auch unseren eigenen. Es scheint, als würden die Menschen im Frühjahr 22 unaufhörlich Natron fressen. Bis wir, wie die Waldameisen, platzen und nichts mehr da ist außer der Erinnerung an Vergangenes.
