Publikumsschwund

Experten diskutieren: Warum geht niemand mehr ins Theater?

Die Theater dürfen die Säle wieder voll besetzen, bleibt nun Publikum aus? Ein Gespräch mit dem Regisseur Christopher Rüping, der das Theatertreffen eröffnet.

Ob das Publikum nach der Pandemie zurückkommt? Anna Drexler in einer Szene aus „Das neue Leben“, mit dem Christopher Rüping das Theatertreffen eröffnet.
Ob das Publikum nach der Pandemie zurückkommt? Anna Drexler in einer Szene aus „Das neue Leben“, mit dem Christopher Rüping das Theatertreffen eröffnet.Jorg Bruggemann

Der Regisseur Christopher Rüping, geboren 1985, gehört zu den Publikumslieblingen im deutschsprachigen Theater. Zwei Mal war er Nachwuchsregisseur und zweimal Regisseur des Jahres, fünf Mal wurden seine Arbeiten zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen, auch das diesjährige wird am Freitag im Haus der Berliner Festspiele  mit einer Inszenierung von Rüping eröffnet: „Das neue Leben. Where Do We Go From Here“ – einem von Dante Alighieri inspirierten Abend. Normalerweise brechen die Ticketserver des Theatertreffens schon bei Vorverkaufsstart zusammen, kurz danach ist dann alles ausverkauft. In diesem Jahr gab es nach einer Woche noch Karten, etwa für die zweite Vorstellung des Rüping-Gastspiels. „Tolle Besetzung, fantastischer Stoff“, twitterte Rüping in den Endproben seiner jüngsten Arbeit, die am Sonnabend im Thalia-Theater herauskam. „Es wird voraussichtlich die erste Premiere, seit ich Theater mache, die nicht ausverkauft sein wird. Bricht mir das Herz.“ Wir führten das Gespräch kurz vor der Premiere, die dann doch sehr gut besucht war.

Herr Rüping, in Ihrem Tweet sprechen Sie das schlimme Wort aus: „Publikumsschwund“. Woran machen Sie das fest?

Erst einmal nur an Einzelbeobachtungen, es fehlt eine systematische Forschung zum Thema. Aber es gibt ihn leider, man kann das nicht ignorieren. Nicht nur im Theater. In den Kommentaren zu meinem Tweet gibt es auch Beispiele aus der Oper, dem Kino und sogar vom Fußball. In Zürich, wo ich Hausregisseur bin, haben wir das Problem ebenfalls. Meine 2021 zum Theatertreffen eingeladene und mit dem Nestroy-Preis ausgezeichnete Inszenierung „Einfach das Ende der Welt“ ist da entstanden. Wir konnten sie wegen der Corona-Regelungen in Zürich damals nur fünf Mal vor je fünfzig Zuschauern spielen. Die Produktion kommt jetzt erst, ein Jahr später, wieder auf die Bühne, und während sechs Gastspiel-Vorstellungen in Bochum innerhalb von 48 Stunden ausverkauft waren, läuft der Verkauf für die Wiederaufnahmepremiere in Zürich äußerst schleppend.

Aber in der Tendenz ist das Publikum nach der Pandemie nicht zurückgekommen.

Ich glaube, viele gehen nicht mehr einfach so ins Theater, weil sie neugierig sind oder sich überraschen lassen möchten. Es gibt ein Misstrauen gegenüber der analogen Grundverabredung: Dass man mit tausend Leuten auf engem Raum zusammensitzt, um Menschen beim Spielen zuzusehen, die  im Zweifelsfall auch mal schreien und spucken. All das hat seine Unschuld durch Corona verloren, das sitzt tief. Und wenn jetzt die Corona-Politik plötzlich umschwenkt und die Pandemie als viel harmloser einschätzt als noch vor ein paar Monaten, kommen nicht alle gleich mit. Das führt dazu, dass das Publikum verunsichert ist und wirklich gute Gründe braucht, um ins Theater zu gehen. Die Schwelle ist viel höher geworden.

„Die Leute warten länger mit dem Kartenkauf, es werden mehr Tickets an der Abendkasse verkauft als früher. Ein Theaterbesuch ist immer ein Blind Date.“

Inwiefern?

Insofern, als dass man sich in unserer Situation drei Mal überlegt, ob man jetzt wirklich ins Theater gehen soll, ob man sich der Ansteckungsgefahr, den Masken oder vor Kurzem noch der Testerei aussetzt. Man führt, bevor man sich eine Theaterkarte kauft, eine Relevanzdebatte mit sich selbst und fragt sich: Ist es mir das wirklich wert? Am Thalia-Theater wurde mir erzählt, dass die Verkaufszahlen, die durch Corona ohnehin schon nicht so gut waren, am ersten Tag des Krieges noch einmal schwer eingebrochen sind. Dazu kommt auch mindestens ein schöner und saisonaler Grund, nämlich dass das Wetter besser wird und die Abende länger hell sind. Und noch eine Beobachtung, die mir vielfach beschrieben wurde: Die Leute warten länger mit dem Kartenkauf, es werden mehr Tickets an der Abendkasse verkauft als früher. Ein Theaterbesuch ist immer ein Blind Date. Das ist eigentlich etwas Schönes, das das Theater zum Beispiel dem Kino, wo man besser weiß, was man bekommt, voraushat. Dieses lebendige, unfertige, überraschende und riskante Element des Theaters macht aber die Grundabwägung, ob man sich jetzt eine Karte kauft, noch ein bisschen schwerer. Einfach weil man eben nicht genau weiß, was kommt.

Was ergibt sich daraus für Sie als Regisseur und für die Theater für eine Aufgabe? Was machen Sie, damit die Leute, die sich ins Theater verirren, gewonnen werden und wieder rausgehen mit dem Gefühl, dass Theater lebensnotwendig ist – und die anderen mit diesem Gefühl anstecken?

An der Aufgabe hat sich nicht viel verändert: so gutes Theater zu machen, wie man kann.

Viele Inszenierungen wurden während der Lockdowns weggehängt und danach wieder rausgeholt. Und natürlich merkte man ihnen an, dass sie aus einer anderen Gegenwart stammten und nun nur abgespielt werden, weil sie nun einmal produziert wurden.

„Ich finde nichts schlimmer als Pandemietheater, das irgendwie mit Masken und Klopapierrollen Hygiene-Slapsticks und Maßnahmenkritik absondert – das ist lediglich eine oberflächliche Beschäftigung.“

Als ich nach dem ersten Lockdown wieder ins Theater gegangen bin, habe ich das ähnlich erlebt. Das Stück ging los, ich weiß gar nicht, ob das gut oder schlecht inszeniert oder gespielt war, aber ich merkte, wie fundamental geschockt ich davon war, dass diese Veranstaltung so gar nichts mit meinem persönlichen Gefühl in dieser konkreten Gegenwart zu tun hatte. Ich dachte: Ich begebe mich hier in eine Lebensgefahr mitten in einer wütenden Pandemie, ich setze mich da rein, dann flackert irgendwo ein Scheinwerfer und ein Schauspieler erzählt mir irgendwas, ohne auch nur im Geringsten darauf Bezug zu nehmen, unter welchen Bedingungen ich ins Theater gekommen bin. Dieser Schock war für mich eine Inspiration für „Das neue Leben“, die Inszenierung, die jetzt das Theatertreffen eröffnet. Gleichzeitig finde ich Nichts schlimmer als Pandemietheater, das irgendwie mit Masken und Klopapierrollen Hygiene-Slapsticks und Maßnahmenkritik absondert – das ist lediglich eine oberflächliche Beschäftigung, da wird Relevanz nur simuliert. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Welt, in der wir leben, muss auf tieferer Ebene stattfinden.

Wie stellt man dann das Gefühl von einer gemeinsamen Gegenwart her, die das Theater ja ausmacht?

Bei „Das neue Leben“ ging es uns im Grunde um Trost. Die Inszenierung hatte ihre Premiere zwischen zwei Lockdowns und es war und ist unser Ziel, sowohl uns selbst als auch dem Publikum wenigstens ein wenig Trost zu spenden, der ja nicht ganz leicht zu finden ist in einer Zeit, in der wir allein zu Hause hocken mussten und teilweise immer noch müssen. Theater muss sich zu der Welt, in der es stattfindet, ins Verhältnis setzen. Das ist keine Floskel, sondern eine interessante künstlerische Frage, die sich bei jeder Arbeit neu stellt. Und nun erst recht, je mehr unsere Welt bedroht zu sein scheint, von der Pandemie, von den steigenden Ozeanpegeln oder vom Atombombenhagel. Da stellt sich die Frage noch einmal dringlicher: Wie soll sich das Theater dazu verhalten? Da gibt es verschiedene Antworten und alle haben ihre Berechtigung, wenn sie ehrlich gemeint sind – vom politisch-aktivistischen Antikriegsabend bis zum Jetzt-erst-recht-Eskapismus.

Wo sortieren Sie sich da ein?

Das ist von Arbeit zu Arbeit unterschiedlich. Gerade im Moment störe ich mich daran, dass die Welt nur noch monothematisch beschrieben wird. Zwei Jahre lang ging es in den Medien ausschließlich um die Pandemie, nun wurde sie vom russischen Angriffskrieg ausgeknipst. Aber für alle anderen Themen und Probleme, die vorher wichtig waren, fehlt es an Aufmerksamkeit. Dabei sind diese Fragen ja nicht einfach weg, ganz im Gegenteil: Manche stellen sich im Spiegel unserer Zeit noch einmal drängender, finden aber im öffentlichen Diskurs kaum statt. Bei „Brüste und Eier“, meiner neuen Arbeit am Thalia-Theater, geht es zum Beispiel um Fragen der Mutterschaft, der künstlichen Befruchtung, des Schönheitswahns – alles Themen, die nach wie vor relevant sind, auch wenn sie aus der Wahrnehmung gedrängt werden.

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Julian Baumann
Zur Person:
Christopher Rüping wurde 1985 in Hannover geboren, studierte in Hamburg und Zürich Theaterregie.

Er inszenierte u.a. am Deutschen Theater Berlin, in Frankfurt (M.), Hamburg, Hannover und München, wo er bei Matthias Lilienthal von 2016 bis 2019 Hausregisseur an den Kammerspielen war, bevor er zu Nikolas Stemann ans Zürcher Schauspielhaus wechselte.

Rüping wurde seit 2015 fünf Mal zum Theatertreffen eingeladen, das diesjährige eröffnet seine Inszenierung „Das neue Leben“ nach Dante Alighieri.

Und Ihr Dante-Abend?

Der bezieht sich wiederum unmittelbar auf die Lockdowns und auf das Wieder-ins-Theater-gehen-Dürfen. Er richtet sich besonders an diejenigen, die nach zwei Jahren Entwöhnung wieder ins Theater gehen und eben hier dem „neuen Leben“ begegnen. Das war zumindest mein Versuch. Ich freue mich sehr, dass er das Theatertreffen eröffnet und diesen Ton nach zwei digitalen Festival-Ausgaben anschlägt.

Glauben Sie, dass die ausbleibenden Zuschauer irgendwann aus ihren Jogginganzügen steigen und wieder angedackelt kommen?

„Ich kann mir das Theater der Zukunft noch nicht vorstellen. Aber es hat viele Krisen überlebt, es wird auch Corona überleben.“

Das wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein, die wir in unserer Biografie erleben werden. Ich glaube, dass sich grundsätzlich etwas an unserem Zusammenleben und vor allem an unserem Gefühl für Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen verändert hat. Das ist wohl irreversibel. Aber zugleich sind wir gerade in einer Startphase, in der das Leben wieder anläuft. Und das überfordert manche. Ich habe einen Artikel gelesen, der ein schönes Bild dafür gefunden hat: Das Flugzeug startet, und wir werden aufgrund der Beschleunigung in die Sitze gedrückt. Wenn wir die Reisegeschwindigkeit und die richtige Flughöhe erreicht haben, werden wir uns auch wieder leichter frei bewegen können. Aber wir werden lernen müssen, uns unter veränderten Bedingungen zu begegnen.

Welche Konsequenzen hat das für das Theater?

Ich kann mir das Theater der Zukunft noch nicht vorstellen. Aber es hat viele Krisen überlebt, es wird auch Corona überleben. Wenn das jetzt, wie es immer der Fall war, mit einer Besinnung und einer Neuorientierung einhergeht, hat es auch sein Gutes. Ich habe mich vor Corona manchmal mit Stoffen beschäftigt, einfach weil ich etwas inszenieren musste. Ich muss meine Existenz finanzieren, die Theater müssen eine bestimmte Anzahl von Produktionen liefern, um zu funktionieren. Das ist jetzt anders, zumindest für eine Weile. Jetzt stellt sich jedes Mal die tiefe Frage: Was tue ich? Hat was ich tue einen Sinn? Wie verhalten sich meine Inszenierungen zu der Welt? Diese wuchtigen Fragen haben zu einer Schärfung meines Bewusstseins und zu einer tieferen Reflexion meines Tuns geführt. Und ich hoffe, dass das beim Publikum ankommt. Ich glaube, dass man das spürt. Aber man muss natürlich schon erst einmal hingehen.