Theater

„Stechen und Sterben“: Wie die Volksbühne ihr Publikum quält

Die Prater-Studios fungieren als Labor für Avantgardisten und Folterkammer für das Publikum. Die Bäckerei Harmony feiert mit „Stechen und Sterben“ Premiere.

Gaia (Ann Göbel) will vor dem Tod ihren Körper an einen Arzt (Franz Beil) verkaufen
Gaia (Ann Göbel) will vor dem Tod ihren Körper an einen Arzt (Franz Beil) verkaufenAckermann-Simonow-Kahn

Was ist das denn nun wieder für eine schräge und schmerzhafte Veranstaltung? Sie fand am Freitag, wie zwei Tage zuvor die Premiere von „Die Chor“, in den sogenannten Prater-Studios statt, diesmal auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Die Zuschauer sitzen in einem halben Stuhlkreis auf der  Drehbühne mit dem Rücken zum weißen Horizont der Volksbühne und blicken in ein Chaos von Aufstellern und Hängern und, wenn sie die Köpfe in den Nacken legen, in die schwindelnde Höhe des Bühnenturms. 

Das Stück von der Bäckerei Harmony – das sind die für Text und Regie zuständigen jungen Schauspielerinnen Martha Mechow und Leonie Jenning – heißt „Stechen und Sterben“ und verspricht einen Blick in die bevorstehenden Katastrophen. Mit Theater im Sinne von Schauspiel hat das wenig zu tun, es handelt sich eher um eine Art Freakshow, in der Thesen, Plotpoints und Erklärungen in den Raum gerufen werden. Die Ansagen erfolgen in rituellem Singsang mit drastisch verschleppten Impulsen und unter permanentem postironischem Druck. 

Eine zu Lebzeiten verkaufte Leiche

Der Abend beginnt ganz locker mit einer Reihe von Suiziden. Sie symbolisieren das zukunftsfeindliche Verhalten von Bewohnern dieser Erde, die dann in Gestalt von Gaia auftritt. Gespielt, das heißt eher gerufen und geweint wird Gaia von Ann Göbel, die wie ein Medium von Text durchfahren wird und echte Not ausstrahlt. Gaia hat Hunger und ist satt vom Leben, in ihrem Bauch grummelt es gefährlich, wir wollen nicht spoilern, aber irgendwann kommt es zu eruptiven Entladungen grünen Schleims.

Gaia ist außerdem eine in der Spree endende Wiedergängerin der Toten aus der Seine. Wie jene Elisabeth aus Ödön von Horváths „Glaube, Liebe, Hoffnung“ versucht sie, ihre Leiche schon zu Lebzeiten verkaufen, was ein Symbol für den Kapitalismus ist, hier speziell für den ressourcenfressenden Umgang mit unserem gefledderten Planeten. Verschnitten wird das mit mindestens zwei weiteren krude konstruierten Geschichten über Datenkapitalismus und Orakelwesen, denen wir partout nicht folgen konnten, die uns gleichwohl in dystopische Stimmung versetzten, gegen die sich der am Schluss krachlaut eingespielte Song „Our Darkness“ von Anne Clark wie ein belebender Sonnenaufgang anfühlte. 

Überdimensionierter Aufwand

Wie schon „Die Chor“ ist „Stechen und Sterben“ als Produkt überaus strapaziös, gedanklich weitgehend unfertig, und das Publikum wird eher geduldet als adressiert. Die Prater-Studios entpuppen sich als Labor oder Buddelkasten für Zerleger, Neuerfinder und Wiederzusammensetzer von Theater. Wo, wenn nicht in der Volksbühne, sollen solche Experimente unterkommen? Allerdings ist fraglich, warum der Aufwand derart überdimensioniert sein muss und ausgerechnet der große Saal dafür blockiert wird. Die Volksbühne vermisst schmerzlich ihre kleine Quälbude, die Spielstätte im echten Prater in der Kastanienallee, der aber weiterhin nicht zur Verfügung stehen wird. Mit solchen übermütigen und großkalibrigen Rohrkrepierern aber steht sich das Haus selbst im Weg. 

Stechen und Sterben 26. März, 5., 23. April, Karten und Anfangszeiten unter Tel.: 24065777 oder www.volksbuehne.berlin