Alles beginnt mit einem unendlich tiefen Blick, einem herausfordernden, fragenden, schutzlos intensiven, animalischen Blick. Er gehört unserer freundlichen „Leitwanderin“ Marika, die langsam vor jeden in unserer Gruppe aus fünf Besuchern tritt und gefühlt minutenlang mit den Augen fixiert. Ein befremdliches Willkommen, das die innere Spannung eher aufzäumt, als vergessen lässt. Dieser eindringliche, nuancenreiche Moment gibt sogleich zu spüren, dass man hier den Bereich des Normalmenschlichen wie des Theaterkonventionellen geradewegs verlässt. Marika, so viel wird in ihren scheu-gierigen Augen klar, befindet sich längst in einem Übergang zu etwas anderem, etwas, das man einen animistisch-vegetativen Zustand nennen könnte. An diesem Nachmittag mit Marika und ihren ähnlich entrückten Kollegen erforschen und erleben wir, wie weit die Sehnsucht nach menschlicher Verwandlungskraft und gegenseitigem Austausch reicht.
Ihr grauer Jogginganzug ist von oben bis unten erdverschmiert und beim Gehen knickt sie einen Fuß so eigenartig nach außen, als habe sie das richtige Fortkommen auf zwei Beinen bereits verlernt. Leise und mit geschmeidig schlenkernden Armbewegungen pfeift und flüstert sie uns zu: Hier, hier geht es zum Wald! Und doch wird es bis zum Eintritt dort hinein noch gute fünf Stunden dauern, die wir – selbst in graue Jogginganzüge gesteckt – mit waldtherapeutischen Vorbereitungen und einführenden Kuranwendungen ausfüllen.
Sind wir nicht alle von Unruhe zerfressen? Und so lässt man dann auch willfährig eine riesige Achat-Schnecke über seine Hand kriechen und spürt erschütternd klar dabei die Kraft in ihrer Langsamkeit. Und man zappelt mit einem Aal zwischen den Fingern durch einen Waschraum, um dessen amphibische Verwandlungskunst ein Stück in sich aufzunehmen. Rätselhaft, widersprüchlich bleibt aber auch über Stunden hinweg alles an diesem Heilplan, dessen Ziel nicht nur der Wald ist, sondern vor allem die „Waldwerdung“, das Jenseits aller zivilisatorischen Erregung also. Wirklich gesund sieht hier dennoch niemand aus: weder die im Waldwerdungsprozess fortgeschrittenen Pfleger noch die abgerissenen Waldschrats, die in dunklen Ecken der Flure lungern und uns Neuankömmlingen mürrisch hinterher knurren.
Es ist Mittwochnachmittag und wir befinden uns im zweiten Stock des alten Paketpostamtes in Altona, den das dänisch-österreichische Performerduo Signa für seine zum Theatertreffen eingeladene Performance-Installation „Ruhe“ in eine eigenartige psychosomatische Reha-Klinik verwandelt hat.
Dass die Festspiele diesen bizarren Erlebnispark an seinem Originalschauplatz belassen, statt nach Berlin zu frachten, ist schon aus Gründen der Ressourcenschonung zu begrüßen. Denn neben einem Shuttle-Angebot der Festspiele sind die früh gelegten Veranstaltung bequem an einem Tag mit dem Zug zu erreichen. Es passt gut, dass an dem alten Hamburger Paketamt von außen nichts auf die mysteriöse Klinik im Hinterhof hinweist, während vorn noch DHL-Transporter ein- und ausfahren. Denn etwas versteckt Subversives, nicht ganz Ausgebrütetes prägt die Spielorte von Arthur und Signa Köstler immer. Man kann sie Transformationsorte nennen, Übergänge, in denen Besucher nichts Fertiges einfach zu sehen bekommen, sondern aktiv erkunden müssen.
Gefangen zwischen Pressholz und Polyester
Was es mit dem Wald und der Sehnsucht nach „Waldeinsamkeit“ genau auf sich hat, wird hier dennoch immer wieder wort- und gestenreich erklärt. Und natürlich versteht auch jeder intuitiv, warum die Pflanzen- und Tierwelt dieser Tage so viel höher geschätzt werden, als die zivilisatorischen Errungenschaften der Menschen, deren aggressiven Kern allein schon der Brutalo-Betonbau des Postamtes aus den frühen 70ern selbst preisgibt.
Signa setzt noch eins drauf: Kalte Gänge werden durchwandert bis wir „Präparanden“ in einem wie aus dem Möbelhauskatalog geschnittenen Rabatt-Wohnzimmer landen mit hell lackierter Schrankwand aus Pressholz und einem buntem Sofa gegenüber. Auf der Polyester-Auslegware in der Mitte überrascht ein Haufen schwarzer Erde, dem sich die „Leitwanderin“ und ihr Gefolge auch gleich anschmiegen. „Riech mal – gut, nicht?“ Viele Räume werden so durchwandert und dabei leise Gruppengespräche geführt über Gemüseanbau, die Nähe zu sich selbst und die Last von Entscheidungen. Unweigerlich kommt man einander näher, versteht das gelobte Therapieziel „Waldwerdung“ aber immer weniger. Verwandlung ist das Zauberwort, doch wenn am Ende die Tür zum Paradies aufgeht, wartet der schillernde Horror. Verglichen mit früheren Signa-Abenteuern ist „Ruhe“ eine kurze, extrem durchkomponierte Performance, deren ambivalentes Gift der Erkenntnis ganz langsam unter der Oberfläche herankriecht. Ein Höllentrip in Therapiegrau.



