Wir sitzen endlich wieder zusammen in der Gegenwart des Theaters und teilen gemeinschaftlich einen Augenblick, den es ohne einen anderen, sehr einsamen Augenblick, der längst vergangen ist, nicht geben würde. Wir erleben nach knapp sieben Jahrhunderten das Echo einer Begegnung in Florenz: Neun Jahre ist Dante alt, als er die ebenfalls neunjährige Beatrice sieht, die fortan „die verklärte Herrin seines Herzens“ ist. „Das neue Leben begann“, heißt es, und weitere neun Jahre vergehen, in denen er ihr heimlich nachstellt und aus Verstecken Blicke auf sie zu erhaschen versucht. Und dann passiert es: „Da sie durch eine Straße ging, wendete sie ihre Augen nach der Stelle, wo ich furchtsam und schüchtern stand, und in ihrer unaussprechlichen Holdseligkeit grüßte sie mich sehr tugendlich, dass ich das Endziel aller Seligkeit zu schauen meinte.“
Die Wonne dieses Grußes, den Dante gerade noch erwidern kann, lässt ihn trunken durch die Menge eilen und in sein Zimmer fliehen, wo ihn letztlich die Kraft verlässt, dass er einschlummert und träumt: von dem Gott der Liebe, der Dante die fast nackte Beatrice bringt, die etwas Glühendes in ihren Händen hält und auf Empfehlung des Herrn verspeist. Es ist das Herz Dantes. Und Beatrice verbrennt sich nicht einmal die Lippen.
In Christopher Rüpings Inszenierung, die mit Dante Alighieris Liedsammlung „Vita nova“ spielt, heben die Grüßenden kaum die Hand und sagen leise Hallo. Kein Donner, kein Blitz, keine Flucht, keine Ohnmacht, kein Traum. Und doch wird dieser Augenblick der Begegnung gefeiert, der Gruß ist das bescheidene Leitmotiv dieser Arbeit. Mit ihm beginnt nach zwei digitalen Ausgaben endlich wieder ein Theatertreffen in Präsenz. Hallo, da seid ihr ja alle wieder – fremd und ein bisschen älter geworden, wenn man ehrlich ist. Ist ja kein Wunder, so wie die Welt uns zu schaffen macht, mit Klimakrise, Pandemie, Krieg und der Führungskrise bei den Festspielen, deren Intendant Thomas Oberender nach Machtmissbrauchsvorwürfen aus dem Amt schied.
Die Begrüßungsreden der scheidenden Theatertreffen-Chefin Yvonne Büdenhölzer und der neuen Kulturstaatsministerin Claudia Roth ließen den nun endlich wieder anlaufenden Betrieb und seine Institutionen für ihre gesellschaftlich förderlichen Tugenden erstrahlen, sie hoben die Systemrelevanz des Theaters hervor und listeten die für seine Zukunftsfähigkeit nötigen Bemühungen auf: Nachhaltigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, Barrierefreiheit, Internationalität, Diversität, Führungskultur – sodass ein bisschen das aus dem Auge geriet, worum es eigentlich geht – nämlich um Kunst. Was machen wir eigentlich mit dem Theater, was sollen und wollen wir mit ihm, jetzt, da wir es wiederhaben? Ein voller Saal und viel Vorschussjubel ist ein guter, schwungvoller Wiederanfang.
Rüpings Eröffnungsinszenierung, die im September in Bochum zwischen zwei Lockdowns zur Premiere kam, bremst die Euphorie des Wohlmeinens. Sie zeigt sich erst einmal fremd, holt das entwöhnte Publikum ab, tastet sich – hallo – vorsichtig zurück ins Licht und ins Spiel. Zwei Schauspielerinnen (Anna Drexler und Anne Rietmeijer) sowie zwei Schauspieler (Damian Rebgetz und William Cooper) wechseln die Rollen, deuten viel an, spielen nichts aus, bleiben Kollegen im Dienst, halten ihre Herzen fest und müssen von besagtem Echo jener strahlenden Liebe und einem automatischen Klavier (Musik: Jonas Holle) immer neu angestupst werden.
In diesem Kasten wohnt der Abglanz jenes holdseligen Augenblicks, ihm entsprudeln glitzernde, harmonisch überlaufende und jubelnd in alle Richtungen losstürzende Begleitungen für eher simple und eingängige Popsongs, etwa von Britney Spears, Whitney Houston oder Meat Loaf. Die vier aber testen und suchen ihre Stimmen eher, als dass sie sie erheben, verzagen lieber dürr, als fett zu verschmachten. Schön, wie sie einander aushelfen, wenn ihnen die Puste ausgeht.
Dantes Furcht vor dem Leben ist größer als die vor dem Tod. Er verschließt sein Geheimnis in seiner Seele, lässt sich vom Kummer umhauen, steht aber immer wieder auf, um Sonette und Kanzonen für die Angeschwiegene zu dichten. Er versteht es zu spät, und als er endlich bereit ist, seine Liebe zu entdecken, damit dem Glanz der Vollkommenheit zu entreißen, in den Fluss der Vergänglichkeit und in den Dreck des Echten zu stoßen, da stirbt Beatrice.
Nach einem auf einmal doch sehr wuchtigen und kunstigen Zwischenspiel mit einem seelenlosen Scheinwerferpendel, das zu elektronischer Musik und Nebel allgemein bedeutungsvoll seine neun Höllenkreise zieht, landen wir mit Dante im Paradies, das übrigens genauso aussieht wie ein Theater, und begegnen Beatrice in der mitsiebzigjährigen Gestalt von Viviane De Muynck wieder: „Jetzt seid ihr enttäuscht“, sagt die Unsterbliche und kichert sehr schön und sehr echt. Kichert ein Kichern, das durch die Jahrhunderte, durch Hölle, Fegefeuer und Paradies getragen wurde. Und das uns heute hier unten in der doofen Gegenwart ansteckt.


