True Crime und kein Ende. Ob als Podcast, Dokumentation oder fiktionale Aufarbeitung: Kaum ein Genre dominiert den Bereich des seriellen Erzählens derzeit so sehr wie wahre Justizfälle. So sehr greift der Boom um sich, dass andere Serien – man denke an „Only Murders in the Building“ oder auch „Dexter: New Blood“ – ihn ihrerseits zum Thema machen. In den vergangenen Wochen fanden vor allem Geschichten auf den Bildschirm, die sich (siehe „The Dropout“ oder „Inventing Anna“) mit realen Betrugsfällen auseinandersetzten. Doch „The Staircase“ des Regisseurs Antonio Campos zeigt nun, dass auch Mord nach wie vor ein Thema ist. Nicht zuletzt, wenn die Schuldfrage bis heute nicht komplett geklärt ist.
Im Zentrum des Achtteilers steht der auf Kriegsromane spezialisierte Schriftsteller Michael Peterson (Colin Firth), der am 9. Dezember 2001 spätabends einen Notruf tätigt. Blutüberströmt liegt seine tote Frau Kathleen (Toni Collette) am Fuß der Treppe des Anwesens in Durham, North Carolina, das die beiden auch immer wieder mit ihrer fünf junge Erwachsene umfassenden Patchwork-Familie teilen. Bei Polizei und Staatsanwaltschaft ist man schnell hellhörig, denn nach einem Unfall sieht die Sache irgendwie nicht aus.
Familie steht vor der Zerreißprobe
Als Michael verhaftet und des Mordes verdächtigt wird, steht nicht zuletzt die Familie vor einer Zerreißprobe. Kathleens Schwester Candace (Rosemarie DeWitt) ist schnell von seiner Schuld überzeugt, und auch die Tochter des Opfers (Olivia DeJonge) will mit der Anklage kooperieren. Derweil halten Michaels Söhne aus erster Ehe, Todd und Clayton (Patrick Schwarzenegger und Dane DeHaan), und seine beiden Adoptivtöchter Margaret und Martha (Sophie Turner und Odessa Young) zu ihm. Aber ihr Glauben wird – trotz einer überzeugenden Verteidigungsstrategie des Anwalts (Michael Stuhlbarg) – angesichts ständig neuer Enthüllungen erschüttert. Denn nicht nur traf sich Michael immer wieder mit anderen Männern zum Sex, sondern auch die Mutter von Margaret und Martha, eine frühere Freundin der Familie, starb einst in ihrem Haus am Fuß einer Treppe.
Schon einmal wurde dieser Fall erzählt: Der französische Filmemacher Jean-Xavier de Lestrade inszenierte die dokumentarische Serie „The Staircase – Tod auf der Treppe“ (zu sehen bei Netflix), die 2004 erstmals ausgestrahlt, später um neue Folgen ergänzt und mit dem Peabody Award ausgezeichnet wurde. Weil Lestrade damals, auf der Suche nach einer Geschichte über die Abgründe des amerikanischen Justizsystems, Peterson schon vor Beginn des Prozesses mit der Kamera begleitet, ist die Entstehung der damaligen Reihe nun wiederum auch Bestandteil von Campos‘ fiktionalisierter Erzählung.
Überhaupt überzeugt „The Staircase“ nicht nur durch den facettenreichen Fall selbst, sondern auch durch die Art, wie die Serie ihn erzählt. Der Ambivalenz, dass es eine endgültige, über alle Zweifel erhabene Wahrheit hier nicht gibt, wollen Campos und sein Autoren-Team gar nicht erst aus dem Weg gehen und zeigen Peterson, der 2003 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und 2011 im Zuge einer Wiederaufnahme des Verfahrens wieder auf freien Fuß kam, gleichzeitig als zur Lüge neigenden, streitlustigen Narzissten und warmherzig-gebildeten Familienvater.
Colin Firth spielt das, ganz im Gegensatz zu seinem üblichen Rollenprofil, mit faszinierender Nuanciertheit; selten hat man ihn so gut gesehen. Auch der Rest des Ensembles, darunter etwa die grandiose Parker Posey als stellvertretende Bezirksstaatsanwältin oder Juliette Binoche als Cutterin, die sich während der Arbeit an der Doku aus der Ferne in Peterson verliebte, ist fantastisch.
Und anders als die Vorlage von de Lestrade nutzt Campos auch die Möglichkeiten des Fiktionalen, um der von Toni Collette warmherzig zum Leben erweckten Kathleen selbst mittels Rückblenden ausreichend Raum in einer Geschichte zu geben, in der sich alles (und teilweise visuell drastisch) um ihren Tod dreht.
Wertung: 5 von 5
