Viele haben versucht, die eigentümliche Magie der Fotografie in Worte zu fassen. Einer der Bekanntesten war Roland Barthes. Wenn er in seinem Klassiker „Die helle Kammer“ über die Bilder von Fotopionieren wie André Kertész oder Alexander Gardner spricht, ist etwa von „Emanation“ die Rede. Gemeint ist eine Art Spur, die vom Gegenstand über die Aufzeichnung zur Betrachterin reicht. Barthes nennt das das „Haftenbleiben“ oder „Berühren“ des Materials durch das Objekt der Fotografie. Dass sich jener Zauber im Zeitalter allgegenwärtiger Smartphone-Fotos verliert, ist nichts Neues. In gewissen Momenten, in gewissen Fotos, scheint er aber auch heute noch auf.
Nan Goldins „Jimmy Poulette and Taboo! In the Bathroom“, aufgenommen 1991 in New York und Teil der jetzt neueröffneten Ausstellung in der Akademie der Künste, ist so ein Foto. Zu sehen ist die oberkörperfreie Dragqueen Jimmy Poulette, die in mehreren von Goldins Fotos auftaucht. Hier blickt sie auf eine Weise in die Kamera, durch die sich viel von dem auffächert, was die queere Community jener Jahre ausmachte.
In den mit tiefschwarzem Kajal umrandeten Augen, dem nicht ganz direkt in die Kamera gerichteten Blick, den leicht geöffneten, roten Lippen und der eigentümlichen Kopfhaltung scheinen sich verspielte Anmut und Stolz genauso auszudrücken wie der aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbare Schmerz und die Melancholie angesichts verlorener Menschenleben der Community durch die damals wütende Aids-Epidemie. Poulettes Hand ruht liebevoll auf der Schulter einer ebenfalls oberkörperfreien Person auf, die der Kamera den Rücken zukehrt. Nur durch eine barock-funkelnde Silberkette wird sie als Mitstreiter:in jenes Kampfes ums Überleben und Gesehenwerden erkennbar.

„Es ist, als hätte ich meine Subjekte für mich einbalsamiert“
„So viele von ihnen sind gestorben“, hat die amerikanische Fotografin, geboren 1953 in Washington D.C., einmal über ihre „Modelle“ gesagt. „Es ist so, als hätte ich sie für mich einbalsamiert, als behalte ich sie durch die Bilder irgendwie bei mir.“ Obwohl dieses in leuchtenden Grün- und Rottönen gehaltene Porträt – wohl eines der berühmtesten Fotos Nan Goldins – aus ihrem privaten Alltag in den Boheme-Enklaven der 80er- und 90er-Jahre zwischen New York und Berlin erzählt, scheint sich darin auch etwas Universelleres auszudrücken: der Anspruch einer Community, Liebe und Politik zusammen zu denken und zu praktizieren. Und die Art, wie sich durch Fotografie jede Distanz zu jener Utopie für einen Moment auflöst. All das hat bis heute wenig von seiner Faszination verloren.
Nan Goldins Markenzeichen ist ihr kontrastreicher Schnappschuss-Stil, dem weder kompositorische Konvention noch künstlerische Distanz je wirklich als Maßstab galten. Die Fotografin dokumentierte, entgegen aller Erwartungen in dem anfangs noch sehr männlich dominierten Medium eine Welt voll von glamouröser Sexyness, die in den Augen so mancher Betrachterin anstößig wirken musste. Und die, erzählt man sich, einst erzürnte Reaktionen in Ausstellungs- und Museumsräumen hervorrief.
Dazu zählte etwa das Selbstporträt „Nan one month after being battered“, das nicht Teil dieser Ausstellung ist. Goldin blickt dort direkt in die Kamera: im Weiß ihres geschwollenen Auges sammelt sich tiefrotes Blut, das auf unheimliche Weise den Farbton ihres Lippenstifts spiegelt. Das Foto ist das Abbild einer destruktiven Beziehung Goldins zu ihrem früheren Freund und Kernbestandteil ihrer Show „The Ballad of Sexual Dependency“. Der unmittelbare Stil der Fotografin beeinflusst bis heute eine jüngere Generation und machte Goldin zu einer der bekanntesten Fotografinnen der Welt.


Nan Goldins neuere Werke erkunden die Grenzen des Mediums
Mit dem Käthe-Kollwitz-Preis würdigt die Jury der Akademie der Künste nun das Lebenswerk der Fotografin. Die Schwerpunkte der Schau liegen auf Fotos aus frühen Bostoner Jahren, aus New York und Berlin, sowie auf jüngeren Landschaftsfotos. Letztere erinnern in ihrer Reduzierung auf Licht und Natur teils an die Ästhetik der Frühromantik. Oder, in der verschwommenen Formgebung, an Malereien des abstrakten Expressionismus. Es sind Bilder, die sich, anders als die tagebuchartigen Porträts, an die Grenzen dessen heranwagen, was Fotografie kann. Bilder, die Fragen danach aufwerfen, was Schönheit ist, was wirkt und was leuchtet.
Das vielleicht Besonderste an dieser Ausstellung ist die Art, wie hier mit Licht gearbeitet wurde. So wirkt der minimalbeleuchtete Ausstellungsraum selbst wie eine große Dunkelkammer. Und Goldins Bilder, die von Sex, Tod und Entgrenzung, von Performance, Verletzlichkeit und Intimität erzählen, wirken durch ihre pointierte Ausleuchtung, als handele es sich um von hinten bestrahlte Diapositive. Dies koppelt sich natürlich wunderbar mit dem übersaturierten Stil der Künstlerin.
In der Begründung der Würdigung durch die Akademie der Künste heißt es auch, Goldin habe sich, „für Akzeptanz und zunehmende Anerkennung der LGBTQ*-Szene eingesetzt“. Das ist richtig und ehrenhaft. Nur bekommt man beim Betrachten dieser Auswahl manchmal auch das Gefühl, dass letztere auf eine Weise reduziert wurde, die gerade noch so verdaulich ist. Dies ist ein bisschen schade. Denn Goldins Kunst ist ausdrücklich sexuell und explizit, auf eine Weise, die zweifellos auch politisch ist.

Wie politisch Goldin selbst ist, das zeigt auch Laura Poitras jüngster Dokumentarfilm „All the Beauty and the Bloodshed“, der im Rahmen der Auszeichnung zu sehen sein wird. Er erzählt von Goldins Kampagne, die versucht, die berüchtigte Kunstspenderfamilie Sackler für die von ihnen mitverantwortete Opioid-Epidemie zur Verantwortung zu ziehen. Goldin hatte in den späten 80er-Jahren selbst mit ihrer Heroinsucht zu kämpfen. Das verschreibungspflichtige Opioid-Schmerzmittel Oxycontin, das von den Sackler-Erben lange leichtfertig vermarktet wurde, wurde Goldin 2014 in Berlin vor der Operation einer Sehnenentzündung verschrieben. Kurz darauf war sie wieder abhängig und schluckte damals täglich um die 15 Pillen.
Goldins unermüdliche Kampagne fand international Anklang und führte letztlich dazu, dass einige der berühmtesten Kulturinstitutionen der Welt wie das MoMA oder das Guggenheim den Namen der Sacklers aus ihren Gebäuden entfernen ließen. Dass die Fotografien der Künstlerin – auch unabhängig davon – politische Leuchtkraft entfalten, davon kann man sich in Berlin jetzt selbst ein Bild machen.


