Vampire sind, wie jede:r weiß, sehr viel mehr als einfache Monster. Was den Reiz der untoten Blutsauger ausmacht? In jüngeren Vampir-Filmen wie „Twilight“ oder „Interview mit einem Vampir“ ist es der spektakuläre Pop-Mix aus queerem Sex-Appeal, BDSM und aristokratischer Coolness. Doch schon Bram Stockers „Dracula“ steckte voller spätviktorianischer Esoterik und der potenziellen Auflösung der Grenzen von Sex und Geschlecht.
So schreibt Joan Acocella über den Roman, Draculas eigentlicher Reiz liege in der Darstellung von illegalem Sex: die Entblößung des Fleisches, das Sich-Auflehnen des Monsters, die gewaltvolle Penetration.
Kulturgeschichtlich lassen sich Vampire auch als schleichende Gegenfiguren zum nationalen Konservatismus verstehen. Vampire repräsentierten Ängste vor der Moderne, vor der Neuordnung der Tradition, vor Fortschritt, Kapitalismus, Immigration. Karl Marx stellte sich die Bourgeoisie als „Blutsauger“ vor, als „Abbilder lebender Toter“. Man muss heute wohl kaum mehr ausbuchstabieren, wogegen derartige Metaphern in Anschlag gebracht wurden: gegen Juden als angebliche Entsprechung einer parasitären, fremden Übermacht. In der Figur des Vampirs bündelt sich, was seit Jahrhunderten und durchs Unbewusste geistert: der Antisemitismus.
Der Vampir symbolisiert post-pandemische Ängste
Der Vampirfilm „Nosferatu“ von Friedrich W. Murnau aus dem Jahr 1923, der auf Bram Stokers „Dracula“ basiert, fügte dem – das macht den Film heute gewissermaßen zeitgemäß – etwas Drittes hinzu: die Angst vor der Ansteckung im post-pandemischen Zeitalter und ihre politische Instrumentalisierung. Immerhin: „Nosferatu“ erschien wenige Jahre, nachdem Typhus und die Spanische Grippe Millionen von Menschen dahingerafft hatten.
Doch „Nosferatu“ erweiterte auch die Möglichkeiten der Kunstform Film. Und diente den Surrealisten seiner Zeit als ikonische Inspirationsquelle. Es wirkt so gewissermaßen folgerichtig, dass die Ausstellung „Phantome der Nacht. 100 Jahre Nosferatu“ jetzt in der Sammlung Scharf-Gerstenberg gezeigt wird, deren Schwerpunkt ja unter anderem auf surrealistischer Kunst liegt. Die Kellerräume mit ihren gotischen Deckengemäuern und abgedunkeltem Licht wurden hierfür perfekt in Szene gesetzt.

Die Schau besteht aus Werken von Alfred Kubin, Francisco de Goya, Caspar David Friedrich und Edvard Munch. Sie reicht bis in die Gegenwart, bis zu den fantastischen Fotogravuren der Künstlerin Tracey Moffatt oder den sehr zeitgenössischen Installationen der Objektkünstlerin Alexandra Bircken. Ziel der Ausstellung ist es, die Rezeptions- und Einflussgeschichte des Films freizulegen. Zu zeigen, wie „Nosferatu“ die sogenannte „Schwarze Romantik“ prägte: Kunst zwischen okkulter Todessehnsucht und esoterischen Untergangsängsten. Unterteilt ist sie, dem Filmverlauf folgend, in sechs Kapitel: von der „unheimlichen Reise“ über das Hereinbrechen des tierähnlichen Monsters in die deutsche Heimatidylle bis zum „Morgengrauen“ – dem Momenta, als der Vampir dem für ihn tödlichen Tageslicht zum Opfer fällt.
Ins Auge stechen zu Beginn sofort die elegant-unheimlichen Filmplakate des Leipziger Filmarchitekten und Allister-Crowley-Freunds Albin Grau. Graus leuchtende Tusche-Aquarelle, die diese rattenähnliche Vampirfigur in seiner nächtlichen Bewegung zeigen, dienten ursprünglich als Entwürfe für Filmplakate an zentralen Plätzen Berlins, etwa am Nollendorfplatz oder am Gleisdreieck. Sie spiegeln die für „Nosferatu“ typische, farbreduzierte Ästhetik, für denen Ausarbeitung Grau und Murnau eng kooperierten. Tatsächlich vermuten einige, dass Grau, der nebenbei noch „okkulte Leitartikel“ veröffentlichte und mit „Nosferatu“ anscheinend wirklich eine Art Totenkult inspirieren wollte, die treibende Kraft hinter dem Film war. Ein fledermausartiges „Fabeltier“ von Alfred Kubin unweit von Graus Entwürfen zeigt, welch verschiedene Vorstellungen monströser Nachtwesen in die „Nosferatu“-Figur eingeflossen sind.
Der Vampir als Scharnierfigur – für antijüdische Stereotype
Die Ausstellung lässt ihre Werke für sich sprechen. Kontext kann, wer will, dem Katalog entnehmen. Das wirkt – mit Blick auf die antisemitischen Unter- und Obertöne mancher der hier gezeigten Objekte – etwas gewagt. Man könnte fast sagen: fahrlässig. Mit Blick auf die Documenta 15, wo es immerhin eine vampirähnlich-stereotype Figur eines Juden war, die (zu Recht) Empörung auslöste, wirkt die kontextlose Darstellung so mancher Figuren und Bilder in „Phantome der Nacht“ auf den ersten Blick irritierend. Fast so, als liege deren Exposition die Annahme zugrunde, dass man sich über die Rezeption hier ja nicht sorgen müsste müsste, zumal viele der Werke historisch sind und der Großteil der Künstler deutsch – oder zumindest europäisch.
Darauf angesprochen betont Jürgen Müller, Kunsthistoriker an der TU Dresden und einer der Kuratoren der Ausstellung, dass Henrik Galeen, Drehbuchautor für „Nosferatu“, selbst Jude war und dass Antisemitismus zur Zeit der Veröffentlichung Films auch schlicht nicht im Zentrum des Bewusstseins oder der Kritik stand.
Müller sagt auch: „Natürlich ist Dracula antisemitisch konnotiert. Murnaus Werk ist auch die Geschichte eine Verschwörung.“ Der Vampir müsse als eine Art Inversionsfigur verstanden werden, wie ein negativer Jesus Christus: „Wenn wir vom Vampir ausgeschlürft werden, ist das wie bei einer umgekehrten Messfeier. Ihn umgibt der Fluch negativer Unsterblichkeit. Christus stirbt, damit wir auferstehen. Der Vampir hingegen überführt uns in den Tod.“ Der Vampir erinnere, so Müller, auch an „Ahasvan“, die Figur des „ewigen Juden“ aus den christlichen Volkssagen, die für die Nazi-Propaganda wenig später so zentral wurde. Und: „Nosferatu“ sei auch stark von Hugo Bettauers Roman „Stadt ohne Juden“ inspiriert.
Und so sind in der „Phantome der Nacht“ etwa Filmbilder stereotypisierter Figuren hervorgehoben, die ein Blatt Papier beäugen, wo neben einem Hakenkreuz und einem Pentagramm auch ein Davidstern zu sehen ist. Oder etwa eine Radierung des österreichischen Künstlers Stefan Eggeler, auf der der antisemitische Mythos der Brunnenvergiftung dargestellt wird. Sowie ein Buch mit dem Titel „Der Talmud-Jude“, Autor ist der antisemitische Theologe August Rohling. Auf dem Cover ist ein Spinnennetz abgebildet. Die Ausstellungsmacher scheinen ganz nebenbei zeigen zu wollen, dass der Vampirfigur – vom christlichen Antijudaismus zum modernen Antisemitismus – eine Art imaginativ-historische Scharnierfunktion zukommt.
Mit dem Kontext des Katalogs im Hinterkopf ist diese Ausstellung damit einem lehrreichen Stück Film- und Kulturgeschichte. Eine Erfahrung, die nebenbei noch die Stereotype freilegt, die Europas Übergang zur Moderne prägten. Ohne den Katalog wirkt sie eher wie eine Aneinanderreihung ästhetisierten Grusels, inklusive einiger antisemitischer Vibes.
Dass über deren unvermittelte Darstellung bald aufgeregte Leitartikel in überregionalen deutsche Zeitungen verfasst werden, ist recht unwahrscheinlich. Immerhin, so könnte man mit einer Prise Zynismus kommentieren, stehen die Positionen dieser Ausstellung anders als die der Documenta 15 nicht für „postkoloniale“ Entgrenzung. Und immerhin stammen die Macher dieser Werke nicht aus dem sogenannten globalen Süden. Müller weist im Gespräch noch darauf hin, dass er in wenigen Wochen, im Rahmen des Begleitprogramms zur Ausstellung, einen Vortrag in Berlin halten wird, wo er dann näher auf die Frage des Antisemitismus eingehen möchte. Wer plant, sich „Phantome der Nacht“ anzusehen – und ja, einiges spricht dafür – sollte diesen Vortrag nicht verpassen. Oder sich zumindest näher mit dem Katalog beschäftigen. Letzteren müsste es allerdings beim Besuch eigentlich kostenlos mit dazu geben.



