Recycling

Altstoffsammlung in der DDR: Einmal öffnete mir ein nackter Mann die Tür

Katja Hoyer hat eine neue Debatte angestoßen. Um das DDR-Recyclingsystem. Unsere Autorin erinnert sich. Und fragt, warum sie die Vorteile des Konzepts erst heute versteht.

Sero-Annahmestelle in Berlin
Sero-Annahmestelle in BerlinRolf Zöllner/Imago

Katja Hoyer hat es mal wieder geschafft, eine Debatte auszulösen. Diesmal geht es nicht um DDR-Geschichte wie in ihrem Buch „Diesseits der Mauer“, nicht so generell zumindest. Es geht um Sero, das ostdeutsche Recycling-System. In einem Artikel für ihren Blog Zeitgeist beschrieb Hoyer, wie DDR-Bürger Flaschen und Altpapier sammelten und – wie ihre Oma – ihr Geschenkpapier bügelten, um es wiederzuverwenden. Woraufhin sich meine Kollegin Susanne Lenz zu Wort meldete und verkündete, sie und ihre Familie im Westen hätten ihr Geschenkpapier auch gebügelt. Und Tüten gesammelt. Plastiktüten und Papiertüten.

Plaste oder Plastik?

Im Osten haben wir Plaste gesagt, nicht Plastik, war mein erster Gedanke, als ich den Text der Kollegin las, dabei sage ich inzwischen selbst „Plastik“, weil ich fürchte, niemand versteht, wovon ich spreche. Mein zweiter Gedanke war: Das gab es auch noch nicht so oft: Westdeutsche, die versuchen, mit dem Osten mitzuhalten, nicht andersherum. Und schließlich dachte ich: Ach Susanne, wenn du wüsstest, wie das war als Altstoff sammelndes Kind in der DDR!

Einmal im Monat war es so weit. Ich klingelte bei meinen Nachbarn, fragte, ob sie alte Flaschen und Zeitungen haben. Meist drückte ich mich bis zum letzten Moment davor. Bei fremden Leuten vor der Tür zu stehen, kostete mich – genau wie heute – große Überwindung. Man weiß nie, wen man antrifft und in welchem Zustand.

Einige Leute hatten schon ihre Zeitungen gebündelt oder Flaschen und Gläser zur Seite gestellt. Oft aber zog ich unverrichteter Dinge wieder ab, weil mir andere Kinder zuvorgekommen waren und die DDR-Bürger dann wohl doch nicht so viel Nordhäuser Doppelkorn tranken und Zeitung lasen wie behauptet. Zumindest nicht in unserem Haus.

Einmal öffnete mir ein nackter Mann die Tür. Er sah müde aus, murmelte was von „Schichtarbeit“ und suchte mir – immer noch nackt – in der Küche ein paar Flaschen zusammen. Ich war neun oder zehn, stand da wie versteinert und ergriff, kaum war die Tür wieder zu, mit meiner Beute die Flucht.

Am nächsten Morgen brachte ich das Altpapier und das Glas in die Schule. Noch heute spüre ich, wie die Paketschnur sich beim Tragen in meine Hände bohrte, höre die Flaschen im Dederonbeutel klimpern, rieche den alten Alkohol an den Annahmestellen, sehe in die stumpfen Gesichter der Männer, die fürs Wiegen und Zählen zuständig waren, fühle die klebrigen Groschen, die sie mir in die Hand drückten. Ich warf sie in die Klassen- oder Solidaritätskasse. Für ein Eis am Stiel zum Wandertag. Oder um die Welt zu retten. Vor dem Kapitalismus, was sonst.

Sero sollte auch im Westen übernommen werden

Altstoffsammeln war ein Ritual, das in große Zusammenhänge gerückt wurde, wie so vieles in der DDR, und dessen Sinn – Nachhaltigkeit und Umweltschutz - mir gar nicht richtig bewusst war, weil ich nur eine Pflicht erfüllte. Dabei galt Sero selbst im Westen als beispielhaft. Katja Hoyer schreibt, kurz vor dem Ende der DDR sei eine Westwissenschaftlerin in den Osten geschickt worden, die das System untersuchte und empfahl, Sero in der gesamten Bundesrepublik zu übernehmen. Dann kam die Treuhand, kamen die Manager, die Annahmestellen schlossen.

Ich bekam davon nicht viel mit. Es war die Zeit des Umbruchs, in der nichts blieb, wie es war. Erst später, als ich in New York die Müllberge auf den Straßen sah und in Israel zwischen winzigen Plastikteilen im Mittelmeer schwamm, machte ich mir Sorgen um die Welt. Ich bügele zwar kein Geschenkpapier wie Katja Hoyers Oma, aber wenn mir eine Strumpfhose reißt, versuche ich sie zu stopfen, wie einst meine Oma. Wenn ich einkaufen gehe, nehme ich einen Beutel mit – wie früher beim Altstoffsammeln. Und denke an Rituale und große Zusammenhänge.


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