Konzertkritik

Wir sind alle Freaks: So gut waren Nile Rodgers & Chic im Berliner Tempodrom

Mit Madonna, David Bowie und Diana Ross hat er Megahits gelandet: Nile Rodgers. Doch wie klingt der Großmeister der Disco-Gitarre 2023 mit seiner eigenen Band Chic?

Nile Rodgers beim Berlin-Konzert im Tempodrom
Nile Rodgers beim Berlin-Konzert im TempodromBenjamin Pritzkuleit

Der Disco-Zeremonienmeister will es wissen: „Berlin, seid ihr startklar, mit uns zu spielen?“, stachelt Nile Rodgers das Publikum im Tempodrom an. „Ich hab gesagt: Berlin, seid ihr startklar, mit uns zu feiern?“ Und, sind wir startklar? Aber hallo! Schon zum Opener „Le Freak“ („Le freak, c’est chic. Freak out!“) sind die Sitzplätze auf den Tempodrom-Rängen nur noch dem Namen nach „Sitzplätze“. Unten im Arena-Innenraum hat man sicherheitshalber erst gar keine Stühle aufgestellt. Denn eines ist klar: „Everybody Dance“ heißt nicht bloß der zweite funky Disco-Song des Abends, das Motto beschreibt auch die Stimmung beim Konzert. Eine Frau hinten im Rollstuhl wippt beseelt mit und kennt jede Zeile der Songs. Ein Mann neben ihr hat seine Krücken zur Seite gestellt, um die Arme hochzuschwingen.

Auf der Bühne indes spielt Nile Rodgers (weiße Haube, schwarze Chanel-Sonnenbrille, eng tailliertes Jackett in Altrosa mit Chanel-Glitzerbrosche, rosa Schlaghose mit Blumenmuster sowie extraweitem Schlag) seine Fender-Stratocaster warm. Eine Nachbildung dieses sehr speziellen Gitarrenmodells (eigentlich Bauart 1960, aber bestückt mit einem Ahornholzhals des 1959er-Typs) können Fans seit 2014 kaufen, für rund 2500 Euro. Das Original soll zwei Milliarden Dollar schwer sein. Zumindest schätzt das Branchenblatt New Musical Express (NME) den kommerziellen Wert der von Rodgers auf eben dieser Gitarre gespielten Musik so hoch ein. Konsequent, dass solch eine Gitarre einen glanzvollen Namen trägt: The Hitmaker.

Keine falsche Bescheidenheit! Denn auch wenn der Name Nile Rodgers längst nicht (mehr) so bekannt ist, wie er es sein sollte: Dieser Mann hat mit seinem eigenen, ultraflotten Offbeat-Stil, dem sogenannten Chucking, die Rhythmusgitarre Ende der 1970er fit für die Disco gemacht. Er hat Madonna-Songs produziert („Material Girl“, „Like A Virgin“), Songs für David Bowie („Let’s Dance“) und Diana Ross geschrieben („Upside Down“, „I’m Coming Out“). Allein 2023 erhielt er zwei Grammys, für die Beyoncé-Single „Cuff It“ sowie für sein Lebenswerk. Dabei hat er, inzwischen 70, dessen Karriere einst, man mag es kaum glauben, in der Sesamstraßen-Band begann, ganz offensichtlich noch was vor. Und er hat Glück: Disco, das Genre, das er maßgeblich mitprägte, erlebt gerade ein Revival.

Madonna, Beyoncé und Diana Ross sind heute Abend nicht am Start im Tempodrom – dafür aber die fulminant souligen Chic-Sängerinnen Kimberly Davis und Audrey Martells. Die braucht Rodgers auch unbedingt. Zumal auf der Setlist, vollgepackt mit Megahits, nicht bloß Chic-Songs stehen, sondern auch viele Nummern, die Nile Rodgers mit anderen Acts gemacht hat, darunter die Disco-Hymnen „We Are Family“ (Sister Sledge) und „Lose Yourself to Dance“ (Daft Punk featuring Pharrell Williams). Das wirkt in den schwächeren Momenten (denn natürlich kann niemand sonst so phrasieren wie Diana Ross), als würde Rodgers seine eigenen Songs covern. Und gewissermaßen ist es auch so: Aus der Originalbesetzung von Chic (1977 gegründet, gemeinsam mit dem 1996 verstorbenen Bernard Edwards) ist „nur“ noch Rodgers verblieben.

Trotzdem bereiten uns Chic (samt zwei Keyboardern und einem zweiten Gitarristen) einen zum Tanzen anstachelnden, empowernden Abend. Auch Saxofon, Trompete und Schlagzeug bekommen ihre großen Momente. Und Rodgers, dessen Chucking zu Beginn noch verhalten-dezent klang, nimmt Fahrt auf Richtung Finale. Die Saiten der Hitmaker dürften glühen wie der Sauna-Ofen zum Aufguss. Im Hintergrund, der eben noch nach Jeff-Koons-Goldblubber aussah, läuft bei „Thinking Of You“ eine Diashow, die Rodgers mit all seinen Musik-Weggefährten zeigt, von Bernard Edwards bis zu Lady Gaga. Der Meister verweist mit allerlei Anekdoten auf seine Starpower, aber er tut es so charmant, dass man ihn nie für einen Prahler halten würde.

Das Publikum hat größten Spaß. Da wackeln nicht nur die Tanzbeine, sondern auch die Drinks in den Händen. Sicher geht ein Teil der Neun-Euro-Biere verschüttet, egal! Berlin hat „Good Times“, so auch der finale Titel, dessen Wahnsinns-Bassriff unverkennbar einst auch Queen zu „Another One Bites the Dust“ und die Sugarhill Gang zu „Rapper’s Delight“ inspirierte. Rodgers weiß um sein musikalisches Vermächtnis, gut so. Und wir wissen: Das, was an diesem Dienstagabend im Tempodrom abging, war weit mehr als solide Dienstagsdisco. Nile Rodgers und Chic haben den Freak in uns allen geweckt. Den Freak, der sich lost in music in Musik verlieben und verlieren kann. Sehr, sehr chic!