Julia muss sterben, so viel ist eh klar. Also sehen wir sie zu Beginn schon auf der Totenbahre. Was für ein Spoiler! Oder eben ein foreshadowing, wie der geneigte Shakespeare-Fan den Kniff nennt, den sich Ulf Leo Sommer und Peter Plate (von Rosenstolz) in ihrer Musical-Adaption des Klassikers „Romeo & Julia“ genehmigen. Untertitel hier im Stage Theater des Westens, unweit vom Bahnhof Zoo: „Liebe ist alles“. Dass der gleichnamige Rosenstolz-Hit von 2004 zum Einsatz kommt, das dürfte also auch als sicher gelten.
Es knallt mächtig in Verona. „Mit dem Rücken zur Wand / Alle Brücken verbrannt“, singt der Chor perkussiv in prachtvollen Renaissance-Kostümen auf einer schummrig beleuchteten Drehbühne inmitten einer globeartigen Halbkreis-Hausmauer; und hantiert dabei aggressiv mit mindestens zwei Meter langen Stöcken, die für Allzweckwaffen stehen dürften. „Wer sich nicht bewegt, der hat verloren!“ Verona ist kein Ponyhof. Bald schon lernen wir Romeo (sweet-charismatisch: Paul Csitkovics) mit seinem wallenden Haar kennen, der uns mit seiner Klampfe, fast schon einer Ed-Sheeran-Parodie gleich, verklickert, dass sein Liebesleben keine Zukunft mehr kenne, nun, da die gute Rosalinde nichts mehr von ihm wolle.
Das Mitleid hält sich in Grenzen, denn wir wissen ja, dass bald auch Julia auftaucht und Romeo zu Herzeleid 2.0 verhelfen wird. Das Premierenpublikum muss entweder sehr gut Sekt gebechert haben oder es ist einfach besonders liebevoll (was ist alles? naa?), jedenfalls wird jede Liveaction (etwa Romeo, der sich an den Balkon von Julia turnt) mit Ausrastern begrüßt, als hätte man noch nie „Gladiator“ gesehen.
„Romeo und Julia – Liebe ist alles“ am Stage Theater des Westens überrascht
Damit Romeo und Julia (wild: Yasmina Hempel) zwischen überdimensionierten Glühbirnen mehr oder weniger ungestört ihrer Verknalltheit nachgehen können, braucht es einige Tricks der Amme (keck: Steffi Irmen), die sich rasch als Publikumsliebling erweist. Dass die bei Shakespeare recht eindimensionale Lady Capulet (imposant: Lisa-Marie Sumner) im Musical zu einer Disco-Queen reift, die vor schönen Männern warnt, ist eine Überraschung. Mercutio ist übrigens in seinen Kumpel Romeo verknallt. Leider wird er von Tybalt (trotz wenig Stagetime starker Auftritt: Samuel Franco) zur Strecke gebracht.

Insgesamt haben es Plate und Sommer (die auch für Helene Fischer, Sarah Connor und viele andere komponieren) und ihr Co-Komponist Joshua Lange natürlich raus, uns einen kraftvollen Klangmix aus Tränendrüsenballaden und Tanzbodenstücken zu kredenzen, ein Pop im Hier und Jetzt, aber oft renaissancehaft androgyn flankiert vom Kontertenor Nils Wanderer, dem Todesengel.
Am Ende wird der Cast seine Klamotten effektvoll an den Nagel beziehungsweise auf die Bügel hängen. Dann ist Julia tot, wir haben den großen Rosenstolz-Hit in einer fulminanten Ensemble-Version gehört und ein paar Zentiliter Salzwasser vergossen, aber können ja zur Not behaupten, uns wäre nur jemand gegen den Sektbecher gerannt. Berlin hat eine neue Hörenswürdigkeit.




