Pop

Endlich wieder raus aus Mitte, campen gehen: Die neue Feist-Platte „Multitudes“

Erst hing sie viel in Berlin mit Peaches und Chilly Gonzales ab. Dann wurde sie aus Versehen ein Star. Mit „Multitudes“ kehrt eine ruhigere Feist zurück. Sehr schön!

Eine Vielfalt an Feists
Eine Vielfalt an FeistsSara Melvin & Colby Richardson

Wer bin ich? Und wenn ja: wie viele? Diese Fragen haben schon ganz andere Leute als den Pop-Philosophen Richard David Precht beschäftigt, der 2007 ein dergestalt betiteltes Buch an den Markt brachte. „I am large, I contain multitudes“, schrieb der amerikanische Lyriker Walt Whitman Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner Gedichtsammlung „Grashalme“: Ich bin groß, ich fasse (viele) Facetten.

Literaturnobelpreis-Liedermacher Bob Dylan bezog sich offensichtlich darauf, in seinem Song „I Contain Multitudes“; und womöglich auch der belgische New-Beat-Megastar Stromae (Verlan für Maestro), der seine jüngste Platte 2022 „Multitude“ nannte. Wohlgemerkt im Singular.

Eine Kanadierin reiht sich nun in diese illustre Schar ein: Feist, die Sängerin, die vor einem halben Leben, in den Neunzigern, viel mit Chilly Gonzales und Peaches in Berlin rumhing und schräge Shows machte, bevor sie in der „Sesamstraße “ auftrat (okay, auch schräg, aber cute) und einen Megahit hatte mit „1, 2, 3, 4“, einem Song, den Apple für seine Ipod-Werbung einkaufte und damit noch viel prominenter machte, bis er Feist jahrelang zum Halse raushing: „Multitudes“ (hier wieder Plural!) heißt jedenfalls das sechste Feist-Album. Das erste seit „Pleasure“ 2017. Wie klingt Multi-Feist in ihren Vielheiten? So wie Multivitamin-Mischmasch schmeckt? 

Sagen wir es so: vielfältig. Der Opener könnte auf eine falsche Fährte führen. Oder was heißt „falsche“? Zumindest nur eine Wahrheitsfacette neben anderen: „In Lightning“ blitzt es hin und her zwischen der frühen Ballerbeat-Björk (von deren „Debut“-Album), Wüstenblues und polyphonem Synthie-Pop. Mit „Forever Before“ sind wir dann schon sehr viel eher bei der Tonlage, die „Multitudes“ stärker bestimmt: die melancholische Gitarrenballade; geschult an Nick Drake, Leonard Cohen und Joni Mitchell.

So nackt haben wir Feist schon lang nicht mehr gehört, seit den Zeiten vor dem „Reminder“-Durchbruchsalbum von 2007 nicht. Zwischenzeitlich jagte Feist ihre Vocals durch mehr Effektgeräte als so manche Rockgitarristen ihre Fender-Stratocaster. Auf „Multitudes“ ist Feist wieder ganz bei sich, ohne Schnickschnack. Wie eine Freundin, mit der man sich eine Weile nur in Mitte-Cafés getroffen hat, mit der man aber nun mal wieder campen geht, endlich. Am Lagerfeuer erzählt sie einem von ihrer Adoptivtochter und von ihrem verstorbenen Vater, der Maler war. Je nachdem, mit wem man unterwegs ist, schält das ja auch andere Facetten einer Person frei.

Klanglich bewegt sich Feists „Multitudes“ gar nicht so weit entfernt von den letzten, akustisch reduzierten Alben von Lorde oder Lana Del Rey. Aber doch mit dieser unverkennbar zwitscher-zirpenden Feist-Stimme. Quasi die markante Maracuja im Multivitamin-Sound. Den Nobelpreis wird Feist mit „Multitudes“ nicht gewinnen. Und vermutlich kommt sie damit auch nicht mehr in die „Sesamstraße“. Aber sie erinnert uns doch daran, dass man zugleich Miesepeter-Bert und Kicher-Ernie sein kann: eine bittersüße Vielheit.

Feist: Multitudes. Polydor/Universal, 2023