Nachruf

Tina Turner und der Triumph der Befreiung

Die Lebensstationen von Tina Turner waren stets auch Akte der Selbstbehauptung. Jetzt ist sie im Alter von 83 Jahren in Küsnacht bei Zürich gestorben. Ein Nachruf.

Tina Turner (1939–2023)
Tina Turner (1939–2023)Zoran Veselinovic/imago

Als Tina Turner die Szene betrat, veränderte sie das Bild dessen, was in der populären Musik bis dahin Sexappeal genannt wurde. Nichts an ihr war vordergründig anziehend und gefällig. Auf der Bühne war sie ständig in Bewegung und verbreitete eine Atmosphäre dampfender Vitalität. Am deutlichsten wird das in dem funkigen Disco-Stück „Nutbush City Limits“ von 1973, das zugleich einen autobiografischen Bezug hat. Die Enge des Städtchens Nutbush/Tennessee, die sie hinter sich zu lassen versuchte, wird in dem Stück in Rhythmus und Töne aus dem Synthesizer aufgelöst. Ike Turner, ihr Entdecker und für einige Jahre auch ihr Ehemann, assistierte ihr an der Gitarre und wirkte dabei wie ein kühler Intellektueller, ganz bewusst eine Ähnlichkeit mit dem Vordenker der schwarzen Bürgerrechtsbewegung Malcolm X betonend.

Ike Turner hatte ein sicheres Gespür für Inszenierungen, mit denen er lange zu überspielen vermochte, dass er die junge Anna Mae Bullock, so der Mädchenname Tina Turners, aus dem einzwängenden Korsett ihrer Herkunft aus Nutbush herausgeholt und in die Ehehölle aus Schlägen und psychischer Drangsal hineingezerrt hatte. Dass dabei grandiose Hits wie „River Deep, Mountain High“ und „Proud Mary“ entstanden, schien Tina Turner eine Art kreative Zuflucht zu gewähren – die Bühne als gewaltfreie Zone.


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Eine bluesige Reise durch den amerikanischen Süden

„River Deep, Mountain High“ war ein überorchestriertes Stück Pop von Phil Spector, der in Tina Turner eine ideale Interpretin für seine „Wall of Sound“ gefunden hatte. Auch er war ein brutaler Schläger. Seine Frau Ronnie Spector erlitt hinter der Fassade künstlerischer Produktivität ein ähnliches Schicksal wie Tina Turner. Die Camouflage funktionierte, weil Ike Turner nicht nur ein einfallsreicher Arrangeur seiner Musik, sondern auch seines glamourös-abgründigen Lebens im Showbusiness war. Sehr früh erkannte er das Potenzial des klanglich eher einfachen Songs „Proud Mary“ von John Fogerty und dessen Band Creedence Clearwater Revival. In der Version von Ike and Tina Turner wurde das solide dahintuckernde Stück zu einer bluesigen Reise durch den amerikanischen Süden. Für Bob Dylan war „Proud Mary“ einer der besten Popsongs überhaupt. Es gilt inzwischen als pophistorische Tragik, dass diese ans Herz gehende Musik vor dem Hintergrund anhaltender häuslicher Gewalt entstanden ist.

Ihr späteres Leben wurde für Tina Turner zu einer Geschichte weiblichen Empowerments. Nach 16 Jahren angsterfüllter Ehe gelang ihr 1976 die Trennung, deren Geschichte insbesondere für Frauen zum Impulsgeber wurde: Du kannst es schaffen, du musst dich nur trauen, Alter ist kein Hindernis, sondern ein Privileg gesättigter Erfahrung. Tina Turners zweite Karriere wurde zu einem exemplarischen Fall emanzipatorischer Selbstbehauptung. Sie selbst führte das auf ihre in früher Kindheit erworbene Disziplin zurück. Als Tochter von Baumwollpflückern wurde sie selbst zur Arbeit auf dem Feld angehalten. Es war die andere Seite von Nutbush, die ihr schließlich die Kraft gab, das Heft in die Hand zu nehmen. Um sich von Ike Turner trennen zu können, hatte sie alle Rechte an den gemeinsamen Songs ihrer ersten Karriere abgetreten. Die Loslösung musste radikal sein.

Eine Unsterbliche des Pop

Die künstlerische Wiedergeburt wurde zu einer popkulturellen Offenbarung. Obwohl sie unter den Produzenten Terry Britten, Greg Walsh, Rupert Hine und anderen überwiegend Coverversionen aufnahm, gelang es ihr mit dem 1984 erschienenen Album „Private Dancer“, einen neuen Sound zu etablieren, der dem Zeitgeist eine Richtung gab, ohne dabei die authentische Schwere des Blues und Soul zu negieren. Neben schnell einschlagenden, inzwischen als moderne Klassiker geltenden Songs wie „What’s Love Got To Do With It“ und „Let’s Stay Together“ produzierte sie hinreißende Stücke wie „I Wrote A Letter“ von der deutschen Rocksängerin Inga Rumpf und Eric Burdons „When I Was Young“, die es erst später auf eine Neuauflage von „Private Dancer“ mit Bonustracks brachten.

Fiebrig-flirrende Tanzeinlagen an der Seite von Mick Jagger und David Bowie bei großen Live-Events machten Tina Turner fortan zu einer Unsterblichen des Pop, und das war nach all den Torturen weit mehr als nur ein abgegriffener Euphemismus. Seit den späten 80er-Jahren war Tina Turner, die Mutter von zwei leiblichen und zwei adoptierten Kindern war, mit dem Kölner Musikproduzenten Erwin Bach liiert. Mit ihm lebte sie seit Mitte der 90er-Jahre in der Schweiz, wo sie nach längerer schwerer Krankheit nun im Alter von 83 Jahren gestorben ist.