Das Erscheinen einer neuen Metallica-Platte ist ja mittlerweile ein popkulturelles Ereignis vom Rang eines „Star Wars“-Kinofilm-Releases: verbunden mit ähnlich exorbitanten Erwartungen und der brennenden Frage, wie sehr sie wohl diesmal enttäuscht werden. Die Story auf der nunmehr elften Metallica-Platte „72 Seasons“ führt uns jedoch nicht zu Lichtschwert-Märchenwelten in den Weiten des Weltalls – sondern direkt ins Zentrum der kaputten Seele von Sänger James Hetfield.
Wer glaubte, durch die erste Vorab-Single „Lux Æterna“ im November 2022 schon gut gerüstet zu sein für die komplette Langspielplatte, irrt: Entgegen dem im Titel geführten (und aus traditionellen Totenmessen bekannten) ewigen Licht, ist die Single mit ihrem poppunkigen Motörhead-Gedächtnissound und wildem Gitarrensolo mitnichten eine Ewigkeit lang; sie ist nicht mal dreieinhalb Minuten kurz – und somit eine absolute Ausnahmeerscheinung auf „72 Seasons“, dessen Tracks gerne mal sieben oder sogar elf Minuten Lauflänge einnehmen. Stattliche 77 Minuten und 10 Sekunden ist das Album in Gänze lang und somit ziemlich am Maximum dessen, was überhaupt auf eine gute alte CD (ja, es gibt sie noch!) passt. Zu welchem Ende?
Sänger James Hetfield versucht sich an nichts weniger als einer Psychoanalyse auf Gitarren. Nach dem Ende seiner Ehe, die sein halbes Leben einnahm, und mehrmaligen Rauschgiftentzügen scheint der 59-Jährige bereit für stürmische Seelenstripteases ohne Wenn und Aber. Allenfalls geblendet durch die weiße Asche der Vergangenheit. Vulkanisch, psychotisch, erratisch, chaotisch, narkotisch (all dies auch Prädikate aus dem Titelstück) eröffnet Hetfield stimmlich die Platte auf Gitarrenschmetterdonner. So intensiv klang Hetfield lange nicht mehr. Hier meint es einer ernst mit all den Geistern, die er ruft. Die minimal variierende, dreschende Leadgitarre von Kirk Hammett mutiert derweil zu seinem Fleischwolf des Zorns – und ist von ekstatischer Rauscheskraft, die sich nicht mal hinter Techno verstecken müsste oder würde.
Lyrisch geht es James Hetfield darum, wie die eigenen Schatten einen stets verfolgen, ob man es nun will oder auch nicht. Doch sind es überhaupt die eigenen? Grob orientieren sie sich schon an der eigenen Form, aber letztlich sind die Schatten doch Zerrbilder; fremdbestimmt dadurch, wie zufällig (oder saisonal bedingt) gerade das Licht einfällt. Hetfield meint es so, wie er bereits in einem Vorab-Statement zur Platte verkündete: Andere malen sich ihre Bilder von uns. Das prägt uns, zumal in den ersten 18 Jahren, ergo 72 (18x4) Jahreszeiten. Und dann ist es gar nicht mehr so leicht, das Selbstbild von den Fremdbildern zu emanzipieren. Scheiße!
Metallica sind auch auf „72 Seasons“ nicht Trash, sondern Thrash
Natürlich liefert Hetfield keinen tiefenpsychologisch fundierten Theorie-Essay (das würde auch nicht seiner Jobbeschreibung als Rockstar entsprechen), sondern Heavy-Metal-Songs. Gut so. Schließlich sind Metallica seit vier Dekaden die Kings des Thrash-Metals. Nicht trash wie Müll, sondern thrash wie Dresche. Und dieses gitarregniedelnde Knüppeln, das macht süchtig. Zumindest wenn man empfänglich ist für auditives BDSM. Das ist sowieso das große Wunder dieses Albums: Trotz seiner 77 Minuten (und, nicht zu vergessen, 10 Sekunden) läuft „72 Seasons“ nie Gefahr, langweilig zu werden. Aber weniger, weil es so abwechslungsreich wäre, nein, es gibt keine Hammer-Hymnen fürs Stadion (oder imaginäre Heimstadion), nicht mal eine Ballade zur Beruhigung, sondern der Grund der Kurzweiligkeit ist eher: die sogkräftige Monotonie. Das ist auch eine Leistung.
Während James Hetfield selbst das schier Unaussprechliche ausspricht (etwa Suizidgedanken) und das lyrische Du fragt, ob es wohl mitkäme, wenn er fallen täte, fühlt man sich leicht wie bei der Zahnarztbehandlung – nur dass der Arzt irgendwann, statt des penetrant brummenden Bohrers, an den man sich schon gewöhnt hat, zumal unter lokaler Narkose, dann doch die Kettensäge aus der Schublade holt.
Irgendwo draußen vorm Praxisfenster mäht derweil Kirk Hammett den Rasen mit Elektrogitarren, die auch jodeln und röhren können. Immer mal, wenn man Vertrautes wittert (etwa ein Iron-Maiden-Riffing), biegen die Gitarren dann doch ganz unerwartet ab. Lars Ulrich am Schlagzeug und Robert Trujillo am Bass hingegen setzen kaum eigene Impulse, bleiben daher vergleichsweise farblos. Das stört aber auch nicht weiter. Hetfield präsentiert sich dafür psychonackt, gebrochen, bezwungen und vernarbt wie kaum je zuvor. Ein Jammer, dass er dafür so viel Seelenpein ertragen musste!
Warum singen gerade alle lateinisch, auch Metallica auf „72 Seasons“?
„72 Seasons“ ist eine rasante Reise ans Ende der Nacht – gekrönt vom Elf-Minuten-Finale „Inamorata“, das sich von seinem ruhigen Zentrum her, dem Auge des Sturms, abermals aufbäumt. Innamorata (mit Doppel-N) ist Lateinisch für: die Verliebte, Geliebte, Liebste. Latein, die sogenannte tote Sprache, erfreut sich auch weit jenseits des Vatikans bei den großen Acts gerade offensichtlich wieder steigender Beliebtheit: Das jüngste, nicht minder todestrunkene Album von Depeche Mode heißt wie? „Memento Mori“. Letztlich schimmert in „Inamorata“ dann doch Heilungspotenzial auf. Durch das Aussprechen und Teilen der Leidensgeschichte: „Komm rein, triff meine Geister, die mich missbrauchen.“ Die Beziehung zur Trübsal, zur Depression entlarvt Hetfield dabei als eine toxisch symbiotische.
„72 Seasons“ ist die große Schlechte-Laune-Platte der Saison. Kein Krieg der Sterne, aber ein Krieg mit der eigenen Seele und ihren verzerrten Schatten. Metallica klingen so frisch wie seit den ersten vier Platten nicht mehr. Am Ende fühlt man sich wie jemand, der nach der Behandlung die Zahnarztpraxis verlässt mit dem erleichternden Gefühl, dass ordentlich Seelenschmodder rausgebohrt und -gesägt wurde. Das Leben ist schlimm. Und sich das bewusst zu machen, ist dann doch beruhigend wie eine Ballade und erbaulich wie eine Hymne.
Metallica: 72 Seasons. Blackened Recordings/Universal, 2023



