Berliner Legende

Feuchte Augen, nasse Bierduschen: Die Ärzte auf dem Tempelhofer Feld

Das Ärzte-Konzert am Freitag musste witterungsbedingt ausfallen. Dafür gaben sie am Sonnabend alles. 

Farin Urlaub und Bela  B. von Die Ärzte beim Konzert am Samstag auf dem Flughafen Tempelhof
Farin Urlaub und Bela B. von Die Ärzte beim Konzert am Samstag auf dem Flughafen TempelhofDAVIDS/Sven Darmer

Auch wenn in Berlin Großveranstaltungen zum Alltag dazugehören und man es gewohnt ist, auch große Menschenmassen mit der gnadenlos selektiven Wahrnehmung der Großstadt unbemerkt an sich vorbeiziehen zu lassen, so gibt es doch Tage, an denen einem schnell klar wird, dass etwas im Busch ist. Die Sogwirkung, die am Samstagnachmittag vom bevorstehenden Konzert von Die Ärzte auf dem Tempelhofer Feld ausgeht, ist spätestens beim Einstieg in die U6 deutlich spürbar. Ob Freundesgruppen, die noch mal ihre alten Aufnäher rausgekramt haben, oder Familien, in denen die Eltern ihre Kinder entweder heute in den Ärzte-Kult einweihen oder dies schon vor über zwanzig Jahren getan haben: In der Bahn sitzt kaum jemand, der nicht am Platz der Luftbrücke aussteigt und den langen Pilgerpfad zum Gelände vor den Hangars auf sich nimmt.

Dort angekommen, müssen wohl selbst Skeptiker von Musikevents dieser Größenordnung eingestehen, dass die mindestens dreißig Meter hohe Freiluftbühne einen ziemlich imposanten Eindruck macht. Auch wenn man sich hier auf einem riesigen Rummelplatz befindet (mit Imbissbuden, Bierständen, Merchandise-Zelten und einer schräg zur Bühne aufgebauten Sitztribüne), strahlt das riesige Ä mit den drei Punkten, das nach zwei Vorbands den lang ersehnten Hauptact verheißt, doch irgendwie das Gefühl aus, dass die kommerziell organisierte Massenabfertigung hier doch eher der Sache dient als andersherum.

Die Sache, nämlich die Band, die es wie keine zweite versteht, einen solch überdimensionierten Rahmen mit der richtigen Stimmung zu füllen, tritt dann auch um kurz nach 20 Uhr endgültig in den Vordergrund. Wer schon einmal auf einem Ärzte-Konzert war (und das trifft an diesem Abend sicherlich auf einen Großteil des Publikums zu), weiß genau, was nun passiert. Dennoch funktionieren die warmen Gitarrenklänge des klassischen Openers „Himmelblau“ jedes Mal wieder als emotionaler Eisbrecher, der in den ersten zwei Strophen langsam, aber sicher den perfekt inszenierten Fall des Vorhangs vorbereitet und sich dann in ekstatischem Geschrabbel und einem lang gezogenen „Yeeah“ die Menge mit genau dem Gefühl flutet, für das sie angereist ist.

„Quantität statt Qualität“

Die Band spielt sich mit „Wir sind die Besten“, „Meine Freunde“ und „Hurra“ gekonnt in den Abend – und beweist, dass sie es wahrscheinlich nie verlernen wird, ein solch großes Publikum sofort auf ihre Seite zu ziehen, ohne auch nur einen Hauch von Nervosität zu zeigen. Schnell folgt auch die erste selbstironische Ansage, in der Gitarrist und Sänger Farin Urlaub seinen Fans schon einmal verheißt, dass sie sich auf einen langen Abend einstellen können. Schlagzeuger Bela B. tänzelt bei den Ansagen immer wieder auf der Bühne herum und bemerkt nur süffisant „Quantität statt Qualität“. Wer Die Ärzte kennt und liebt, fühlt sich hier sofort wohl. Auch Bassist Rodrigo „Rod“ González steuert immer wieder kleine Sprüche bei, ehe er den Song „Fiasko“ mit einem effektreichen Bass-Intro einleitet.

Farin Urlaub, Bela B. und Rod von Die Ärzte beim Konzert am Samstagabend auf dem Tempelhofer Feld
Farin Urlaub, Bela B. und Rod von Die Ärzte beim Konzert am Samstagabend auf dem Tempelhofer FeldDAVIDS/Sven Darmer

Anders als die Musiker und Sprücheklopfer auf der Bühne braucht allerdings der Sound zu Beginn ein bisschen Zeit, um schließlich auf einem für ein Freiluftevent dieser Größe wirklich hohen Niveau anzukommen. Auch in den hinteren Reihen hört man noch ziemlich klar und laut, was auf der hier doch weit entfernten Bühne passiert, wo man Bela, Farin und Rod nur als kleine Figuren erahnen kann. Dafür gibt es allerdings große Videoleinwände, die einem das Geschehen vorne auch visuell näherbringen.

Bierduschen und Moshpits

Leichtfüßig geben die drei Berliner Punkrocker auf diesem Heimspiel einige Klassiker zum Besten, wie etwa „Teddybär“ aus den 80ern. Sie streuen in kleinen Portionen aber auch Songs ihrer zwei neuesten Platten „Hell“ und „Dunkel“ ein. Die Ärzte, gegründet 1982, beherrschen in ihrem 40. Jahr freilich perfekt ihr Handwerk, arbeiten in ihrer bunt gemischten Setlist langsam auf die echten Höhepunkte des Abends hin und gönnen sich und ihren Fans regelmäßig eine kleine Trink- und Plauschpause, ohne die Spannung abfallen zu lassen.

Schließlich ist nach zwei Stunden Zeit für die Zugaben und damit das Signal für die mittlerweile schon kräftig mitsingende Anhängerschaft, jetzt auch noch einmal alles rauszuholen. Auch hinten sind jetzt bei Hits wie „Wie es geht“ Bierduschen und kleine Moshpits zu beobachten, in denen Mittzwanziger und Ü50er liebevoll aneinanderstoßen.

Feuchte Augen beim Schrei nach Liebe

Die Ärzte machen an diesem Abend tatsächlich alles richtig. Auf der Bühne geben sie den fast 60.000 Fans mit den drei letzten Songs „Schrei nach Liebe“, „Junge“ und „Zu spät“ genau das, was sie wollen, sodass um kurz vor 23 Uhr wohl wirklich jeder mitsingt und grölt, der nicht gerade in der riesigen „Wall of Death“ in den vorderen Reihen mit Tausenden anderen pogt. Und jenseits der Bühne probieren Die Ärzte etwa durch kompostierbare Toiletten einen möglichst CO₂-armen Ablauf zu ermöglichen.

Auch wenn Die Ärzte mittlerweile ein Standing haben, bei dem Kritik ohnehin nicht auf viele Ohren stößt: Es ist dann doch jedes Mal wieder erstaunlich, dass sie einem sowohl musikalisch als auch in der Umsetzung eines solch überdimensionierten Open-Air-Abends kaum Gründe geben, es überhaupt zu probieren – und dass selbst jene wenigen im Publikum, die vielleicht geglaubt hatten, mittlerweile zu cool für die spaßigen oder auch vor Kitsch nicht zurückschreckenden Texte zu sein, irgendwann doch feuchte Augen kriegen.