Konzertkritik

Bock auf Kuschelkrach: Bon Iver in der Mercedes-Benz-Arena

Die sechsköpfige Band um Justin Vernon packt es, ihren intimen Art-Folk-Sound in die Megaturnhalle am Ostbahnhof zu hieven. Wie machen die das bloß?

Justin Vernon, Mastermind von Bon Iver, hier beim Konzert im August 2022 in Minnesota.
Justin Vernon, Mastermind von Bon Iver, hier beim Konzert im August 2022 in Minnesota.imago/MediaPunch

Die Story hinter dem Bon-Iver-Debütalbum „For Emma, Forever Ago“ von 2007, samt seinem Gitarrenballaden-Megahit „Skinny Love“, ist fast zu gut, um wahr zu sein: Der damals 25-jährige Justin Vernon verschanzte sich, so erzählt er es selbst, einen guten Winter (französisch: „bon hiver“) lang in der Jagdhütte seines Vaters, um eine Lungenentzündung, Pfeiffersches Drüsenfieber, Online-Poker-Spielsucht und akuten Trennungsschmerz auszukurieren. Dabei knallte er Rehe ab, um sich zu ernähren, Papa brachte alle zehn Tage Bier vorbei, und Justin Vernon schrieb Songs, inspiriert durch Bruce-Springsteen-Lyrics und chorale Harmonien der Wiener Sängerknaben. Sein hypnotischer Falsett-Gesang, den er gern mal in acht Spuren übereinanderlegte, erinnerte an den der Apachen. Am Ende des Winters glaubte Vernon, ganz okaye Demoversionen auf Band zu haben – bis er schnallte: Ein bisschen Trompete und Posaune noch drauf – und schon war das Album nahezu perfekt.

Doch lässt sich eine solch intime Atmosphäre auf Arena-Format aufblasen? Das werden sich viele Bon-Iver-Fans sicher an diesem Halloween-herbstlichen Montagabend gefragt haben, bevor die Show losging. Die Benz-Arena ist bekanntlich keine Blockhütte. Eher das Gegenteil davon. Auf futuristische Honigwaben ist die sechsköpfige Band um Justin Vernon verteilt: Geometrische Abteile, die während der Show in sonnenblumenwarmem Gelb, aber auch in Blutrot aufleuchten werden. Zum Song „Perth“ wummern die E-Gitarren kiefergrün-dunkel. Live sind Bon Iver eine robuste Rockband! Ein Keyboard-Chor gesellt sich hinzu. Bei anderen Songs sind es Waldhorn und Tenor-Saxofon, die den Nummern ihre Soundsignatur einschreiben – wobei Bon Iver die finalen Minuten ihrer Songs live mit noch mehr Spannung, leichten Dissonanzen aufladen als auf den inzwischen vier Langspielplatten. Violett strahlen die Leuchtstäbe hoch oben auf der Bühne, einer Rummel-Achterbahn gleich. Grüne Funken glühen.

Das alles ist schon recht weit weg von der Erfahrung, Bon Iver zu Hause entspannt beim Knistern des (imaginären) Kaminfeuers zu lauschen. Bon Iver haben live auch Bock auf melodischen Krach, so viel wird klar. Kuschelkrach. Nachdem das Arena-Publikum, das damit offenbar auch erst warm werden muss, in der ersten Hälfte eher verhalten reagierte, wippt und wiegt es später schon vermehrt. Zwischendurch klingen Bon Iver auch zarter, etwa mit jazzy Klaviertupfern im Pandemie-Song „Please Don’t Live in Fear“. Und natürlich gibt Justin Vernon mit seiner unnachahmlichen Falsett-Stimme auch die beiden Publikumslieblinge „Skinny Love“ (über eine gescheiterte Liebe) und „Blood Bank“ (zu Deutsch „Blutspenden-Station“, auch über eine gescheiterte Liebe) zum Besten. Nun rastet das Publikum erstmals auch aus, als wäre Justin Vernon einer dieser Rockstars. Und irgendwie ist er das ja auch. Ein Ed Sheeran für Menschen mit mehr Geschmack. Funfact: Beim London-Konzert kürzlich tauchte Taylor Swift als Überraschungsgast auf. Wer darauf in der Benz-Arena gehofft hat, wird leider enttäuscht.

Die Kopfstimme ist eine Herzensangelegenheit

Ist das eigentlich romantischer, sich bei der Blutspende oder in der Benz-Arena zu treffen? Sicher in der Benz-Arena. Zumindest, wenn Bon Iver spielen. Paare kuscheln schon. Andere schließen die Augen, singen mit oder trommeln, wenn sie sich noch nicht ganz trauen, zart den Beat mit auf der Brust. Justin Vernons Kopfstimme ist offenkundig immer eine Herzensangelegenheit. Mit seinen zackigen Bewegungen und fetten Kopfhörern, die er während des ganzen Auftritts trägt, wirkt er gleichwohl etwas abgeschirmt. Das Licht leuchtet nun so, als stünde Justin Vernon nicht mehr in einer futuristischen Honigwabe, sondern in einem Zauberkristall. Die Menschen singen mit wie verlorene Seelen – sie haben sich in Bon Ivers Musik verloren. Die Stimmung: Lagerfeuer XXL. Nur vereinzelt naschen Leute Popcorn.

Nach anderthalb Stunden gibt es Standing Ovations auf den Arena-Rängen. Unten stehen alle eh die ganze Zeit schon. Und irgendwann spricht Justin Vernon dann auch den Elefant im Raum an: „Eigentlich verrückt, dass wir hier stehen.“ Also in so einer Mega-Turnhalle. „Wir wissen selber nicht, wie es so weit kam. Und warum ihr alle da seid, aber es ist wunderschön.“ So ist es wohl. Vernon frönt in den finalen Tracks Prince-gleich dem Talking Blues. Das Saxofon eskaliert, als wären wir im Jazzkeller.

Bon Iver, die einst mit ihrem Autotune-Exzess das Cher’sche Chart-Electro-Pop-Stilmittel im Indie-Folk salonfähig machten, haben nun also auch noch die Klang-Quadratur-des-Kreises gemeistert: Sie haben die Arena in einen Konzertsaal verwandelt. Alle Achtung!