Die Bilder, die am Dienstagabend in den Hunderte Meter langen Schlangen vor dem Kendrick-Lamar-Konzert in der Mercedes-Benz-Arena entstanden, werden womöglich aussehen wie die aus den jüngsten Videos des vielleicht wichtigsten Rappers unserer Zeit. Viele der Kids und jungen Erwachsenen halten antiquierte Camcorder und analoge Point-and-Shoot-Kameras in den Händen. Was sie filmen oder fotografieren, könnte mit der körnigen Saturiertheit der Bilder des Videos zu„N95“ durchaus mithalten.
Durch die Zeilen dieses Songs schimmern die für dieses jüngste Album von Kendrick Lamar so paradigmatischen, hellen Klaviertöne und die chorhafte Ornamentierung, die hier immer wieder auf unbeständige, regelrecht zittrige Beats treffen. „Mr. Morale & the Big Steppers“ – das Album, für dessen Darbietung Kendrick Lamar jetzt durch Europa tourt – ist eine zerfurchte Innenschau seiner selbst.
Immer wieder changieren Kendrick Lamars Texte zwischen den hier bestimmenden Themen: Verantwortung und Reue, Selbstbetrug und Integrität. „N95“ – der Titel des Songs bezieht sich auf die Marke einer in den USA gängigen Atemschutzmaske – ist hierfür paradigmatisch. Er hält zusammen, was sich bei Kendrick Lamar in fünf Jahren kreativer Atempause angestaut hat: Performatives, Traumatisches, Therapeutisches. Bilder zwischen einer beseelten Klavierstunde mit Whiskyglas und panischem Wegrennen vor den Cops. Bilder zwischen Covid, Black Lives Matter und der als psychische Bürde beschriebenen Schwierigkeit, berühmt zu sein.
Baby Keem und Tanna Leone heizen die Menge an
In die Mercedes-Benz-Arena mitnehmen dürfen die Fans ihre Kameras leider nicht. Und so bildet sich unweit des Eingangs auf einem eigens angerichteten Tisch eine kleine Analog-Kollektion, die aussieht wie die Auslage in einem Secondhandladen. Massen strömen in die Arena. Bevor Kendrick Lamar selbst auf die Bühne kommt, heizen die jüngeren Acts Baby Keem und Tanna Leone die Menge an. Keem, ein 21-jähriger Rapper, den man für den Good-Vibes-Hit „Honest“ oder die Kendrick-Kooperation „family ties“ kennt, ist Kendrick Lamars Cousin. Keem und Leone stehen bei Kendrick Lamars Label pgLang unter Vertrag und kommen später kurzzeitig auch für das Hauptset nach vorne. Wie die Jüngeren über die in den Mittelraum ragende Bühne springen und rennen, wirkt im Vergleich zu Lamars gleichmäßigen und streng getakteten Bewegungsabläufen eher hektisch und getrieben.

Es ist zweifellos der bisher am aufwändigsten produzierte und perfektionistischste Auftritt Kendrick Lamars. Über sein Outfit allein an diesem Abend ließen sich ganze Essays verfassen. Hier ist er, der Mega-Rapper jenes Genres, das nicht ganz zu Unrecht noch immer mit männlichem Maximalismus und Misogynie assoziiert wird. Er tritt mit kronleuchterhaft-funkelnden Diamantohrringen auf die Bühne, darunter ein glitzerndes Hüftelement wie ein Boxgürtel, Schuhe mit Absätzen, eine seitlich geflickte Lederhose. Zeitweise sieht man ihn auch mit Silberhandschuh und schwarzem Jackett – klare Referenz an Michael Jacksons „Billie Jean“ aus den frühen 80er-Jahren.
Die Botschaft ist eindeutig: Hier ist ein Popstar, der HipHop-Konventionen hinter sich lässt und – anders als Rapper vergleichbarer Größenordnung wie Drake, der sich eine aufgepumpte Camp-Version von Männlichkeit zum Markenzeichen gemacht hat – nicht nur die Erwartungen des Publikums bricht, sondern auch auf furchtlose Weise neu definiert, was es heißen kann, heute Rapper zu sein. Zwischenzeitlich hält er eine Handpuppe seiner selbst, wie als verkörperte Distanz zur Welt, wie ein melancholischer Rest Selbst, der nicht in der Performance Kendrick Lamar aufgehen möchte.
Zwischen Schattenspiel und Operette
Puppenspiel ist überhaupt ein großes Thema auf dieser Tour. Neben der obligatorischen Pyrotechnik und den tiefroten Scheinwerfern setzt Lamar auf subtilere Elemente wie Taschenlampen und Schattenprojektionen auf einen softboxartigen Vorhang, wo Umrisse von Spinnen, Insekten, Engelsfiguren und Händen aufleuchten. Anstelle der sechs Gewehre, die im Text der Hymne „Count Me Out“ auf Kendrick gerichtet waren, werden hierauf sechs Pfeile sichtbar, die die Silhouette des Rappers durchbohren. Eine Referenz auf das koloniale Erbe der USA?
Die neuen Songs werden an diesem Abend fast zur zweitrangigen Hintergrundkulisse einer Performance, die in ihrem Ausdruck zwischen irrlichterndem Schattenspiel und künstlerischer Operette changiert. Das weckt Assoziationen von Valeska Gert über indonesisches Wayang-Schattentheater bis hin zu Basquiats protzigem Neoexpressionismus. Bei einigen der musikalischen Highlights des neuen Albums wie „Rich Spirit“, „Die Hard“ oder „United in Grief“ geht die Menge mit, obwohl die Songs zweifellos sperriger und komplexer sind als die, für die Kendrick Lamar berühmt ist.
Die Highlights des Abends, die die 17.000 Fans förmlich ausrasten lassen, sind eher die Klassiker – „m.A.A.d city“, „Money Trees“ oder der wohl prägnanteste Song seines Albums von 2017: „DNA“. Vor „Money Trees“ lässt Kendrick Lamar sich in einer mit Plastikplanen behängten Box von Performern in Infektionsschutzanzügen auf Covid testen. Zwischendurch wird eine Message eingeblendet: „Eine Maske verbirgt nicht, wer du im Inneren bist“. Was, größer gefasst, wohl auch als Metapher für das Ringen mit Schwarzer Identität und Geschichte lesbar ist. Aber eben auch als Signatur der wechselhaften Auseinandersetzung des Rappers mit Covid.


