HipHop

Kendrick Lamars neues Album zeigt: Er ist der beste Rapper der Welt

„Mr. Morale & the Big Steppers“ gleicht eher einer Therapiestunde als einem typischen HipHop-Album. Damit Stream-Rekorde zu knacken, schafft nur Kendrick Lamar.

Kendrick Lamar 2018 in Los Angeles
Kendrick Lamar 2018 in Los Angelesimago stock&people

Nach über fünf Jahren Funkstille erschien am 13. Mai ein neues Kendrick-Lamar-Album. Eines, das nicht massentauglich klingt und es dennoch ist. Eines, auf dem man den nachdenklichen jungen Mann aus Compton, einer der gewalttätigsten Gegenden der USA, auf eine Weise kennenlernt wie nie zuvor. Wer dachte, er oder sie wisse von den sehr persönlichen Alben „Good Kid, M.A.A.D City“ und „To Pimp a Butterfly“ alles über Kendrick Lamar, dürfte „Mr. Morale & the Big Steppers“ dennoch überraschen. Denn nachdem der 34-jährige Amerikaner auf seinen letzten Alben gesellschaftliche bis religiöse Themen behandelte, gleicht das neue und bisher persönlichste Album beinahe einer Therapiestunde.

„Good Kid, M.A.A.D City“ (2012) war ein Album über die Gangkultur von Los Angeles und das Aufwachsen zwischen Gewalt und Armut. „To Pimp a Butterfly“ (2015) ein Album über Rassismus, das sich auf analytische Weise mit Critical Race Theory und der strukturellen Benachteiligung Schwarzer Menschen in den USA beschäftigte. „Damn“ (2017) war ein weniger thematisches und trauriges Album, auf dem sich auch partytaugliche Songs wiederfanden. Es wirkte, als würde Lamar sich von den schwierigen Themen ein wenig erholen, sich erlauben, eingängiger zu sein. Nur um nun mit „Mr. Morale & the Big Steppers“ endgültig den großen Wurf zu einem poetischen Meisterwerk zu wagen.

Ein tiefer und ungeschmückter Einblick

„I chose me, I’m sorry“, singt Lamar auf der Hook des letzten Songs des neuen Albums, der mit seinem house-artigen Beat wohl nur im weiteren Sinne noch als HipHop durchgeht. Die sich wiederholende Zeile des Refrains ist in erster Linie eine Entschuldigung für die Zeit, in der er keine Musik machte. Die fünf langen Jahre, in denen er kein Album herausbrachte und nicht für seine Fans da war. So, das wird auf dem jüngsten Album klar, denkt Lamar über sich, seine Musik – und seine Leute: Er will sich um sie kümmern. Er ließ sich, das deutet er in „Savior“ an, in eine toxische Retter-Rolle hineinfallen, die er sich selbst auferlegte. Er musste Abstand gewinnen, auch vom HipHop, sich Zeit für sich und seine Familie nehmen.

Lamar hat in den fünf Jahren, in denen er zeitweise unter einer völligen Schreibblockade litt, sein Leben aufgeräumt, sonst wäre dieses Album nicht möglich. Er hat eine Familie gegründet und eine Therapie gemacht. Es sind aber auch fünf Jahre, in denen in den USA viel passiert ist – die Black-Lives-Matter-Bewegung und die Corona-Pandemie bewegten das Land. Beides thematisiert Lamar auf „Savior“. Er verrät, anfangs Impfskeptiker gewesen zu sein – bis er selbst Corona bekam: „Then I caught Covid and started to question Kyrie.“ Kyrie Irving ist ein amerikanischer Basketball-Star, der sich lange nicht impfen ließ. Die Erfahrungen und Gedanken dieser Jahre hat er nun in ein Album gegossen und gewährt einen ungeschminkt-tiefen Einblick in sein Inneres.

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Universal Music
Mr. Morale & the Big Steppers
Das neue Album von Kendrick Lamar ist am 13. Mai bei LG Lang, Top Dawg Entertainment, Aftermath Entertainment und Interscope Records erschienen. Das bisher persönlichste Album des Rappers bekam am Tag nach Release auf Apple Music die meisten Streams 2022: 60 Millionen.

Schon auf den ersten Songs des Albums wird klar, welcher Ideenreichtum in der Platte steckt. Auf „United in Grief“ – dem ersten Song – zeigt Lamar ohne Umschweife sein Können und rappt in halsbrecherischem Tempo tiefsinnige Verse über einen fast nur auf stakkatoartigem Piano bestehenden Beat, der zunächst ohne Rhythmus auskommt. Dann kommt ein wildes Drumset hinzu, Lamar rappt noch schneller als zuvor über Geld und Luxus im HipHop, und darüber, wie er seine – auch aus Armut resultierenden – psychischen Probleme und Trauer mit Geldausgeben zu lindern versuchte.

Ein Song über die Beziehung zu seinem Vater

Dann ändert sich der Ton nicht zum letzten Mal auf diesem Album völlig. Der wohl am besten in den aktuellen US-HipHop-Sound passende Track des Albums „N95“ beginnt. N95 ist die amerikanische Bezeichnung für die FFP2-Maske. Auf einen vergleichsweise harten Beat rappt Lamar in Trap-artigen Rhythmen und kündigt schon in den ersten Sekunden an, dass die Hörerin sich auf ein unvergleichliches Album gefasst machen sollte. „I’ma take ten steps, then I’m takin’ off top five.“ Lamar duelliert sich sinnbildlich mit den fünf Lieblingskünstlern des Hörers. Er wechselt dabei so oft den Ton und die Stimmlage, dass man immer wieder denkt, jemand anderes sei nun am Mikro.

„I love my father for telling me take off the gloves / ’Cause everything he didn’t want was everything I was.“ Lamar rappt auf dem fünften Song, „Father Time“, auf einem ziemlich klassischen, fast aus der Zeit gefallenen HipHop-Beat über die schwierige Beziehung zu seinem Vater.

Der auf subtile Weise schöne Song ist ohne Frage einer der intimsten des Albums und thematisiert auch, wie Lamar es auch auf früheren Alben so oft tut, die Probleme der jungen Schwarzen Männer aus seiner Gegend. Viele Kinder müssen dort aufgrund von Ganggewalt oder langen Knastaufenthalten ohne ihre Väter aufwachsen. Lamar glaubt, das hört man seinen Texten an, dass die Abwesenheit der Väter zu einem problematischen Männlichkeitsbild führt, das sich an kriminellen Vorbildern orientiert. Bis heute führen Ungerechtigkeiten im Justizsystem der USA und rassistische Praktiken der Polizei dazu, dass Schwarze Menschen häufiger und länger im Knast landen als weiße.

Das vor musikalischen und lyrischen Eingebungen überquellende Album, auf dem sich, auch das ist Lamar-typisch, viele fast fünfminütige Tracks finden, nimmt letztlich eine interessante Wendung: „My auntie is a man now I think I’m old enough to understand now.“ Der Song „Auntie Diaries“ beschäftigt sich in fast eher gesprochenen als gerappten Versen auf sanftem Beat mit Lamars Tante und ihrer Transition. Auch 2022 ist dieses Thema im Mainstream-HipHop alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Der Song brachte dem Künstler auch Kritik ein, da er, obwohl er sich verständnisvoll gegenüber der Transition zeigt und seine eigene Homophobie bereut, das Wort „Faggot“ (dt. „Schwuchtel“) als Stilmittel einsetzt.

Kendrick Lamar: 60 Millionen Streams am ersten Tag

Auch wenn „N95“ ein eingängiger Track ist und mit ein bisschen Fantasie sogar in Clubs laufen könnte, bleibt er eine Ausnahme. „Mr. Morale & the Big Steppers“ ist ein Album völlig frei vom aktuellen HipHop-Sound der USA. Es steht sprichwörtlich für sich.

Es gibt eingängige Tracks auf dem Album. Die Fans klassischeren HipHops werden sich freuen, hier und da den alten, witzigeren Kendrick zu hören, wie er über Geld und Autos rappt. Dennoch: Dieses Album ist nicht gemacht, um Hits zu landen. Das ist nicht mehr Lamars Grund, Musik zu machen. Das erkennt man auch an den Feature-Artists, von denen man entweder vorher nichts gehört hat oder die, wie Kodak Black in den letzten Jahren, deutlich an Relevanz verloren haben.

Dass das Album trotzdem schon jetzt ein riesiger Erfolg ist und allein auf Apple Music am ersten Tag 60 Millionen Mal gestreamt wurde, liegt vor allem daran, dass es eben von Kendrick Lamar ist – dem besten Rapper der Welt. Letzteres hat er mit diesem Album erneut unter Beweis gestellt. Lamar hat die Messlatte jetzt höher gehängt – vor allem für sich selbst.