Literatur

„Victory City“ von Salman Rushdie: Zu gut, um ein Vermächtnis zu sein

Salman Rushdies neuer Roman bringt bilderreich und fantastisch Mythen und Themen der Gegenwart zusammen. Er feiert das Erzählen.

Der Autor Salman Rushdie, aufgenommen 2018
Der Autor Salman Rushdie, aufgenommen 2018Joel Saget/AFP

Frauen dürfen nicht weiter „wie Menschen zweiter Klasse behandelt“ werden, heißt es in Salman Rushdies neuem Roman. „Weder im Verborgenen noch versteckt unter Schleiern“ sollen sie leben. Die das fordert, spricht nicht heute auf einer Demonstration gegen die Zustände im Iran, sondern in Indien vor rund 700 Jahren zu einem König. Sie ist die Chronistin eines Reiches, das sie selbst erschaffen hat, sie ist eine Figur des großen Salman Rushdie. „Victory City“, Stadt des Sieges, heißt das Buch, ein bilderreicher Rausch.

Pampa Kampana war neun Jahre alt, als sie Zeugin eines Massenselbstmords wurde. Am Anfang des Romans ist davon die Rede, dass im 14. Jahrhundert unserer Zeitrechnung „im Süden dessen, was wir heute Indien nennen“, nach einer verlorenen Schlacht zahlreiche Frauen sich auf einem Scheiterhaufen selbst opferten. Die Mutter des Mädchens löste ihre Hand und schritt auf das gewürzverbrämte Feuer zu, geleitet von einer Überzeugung, einem Irrglauben.

„Goldene Zeitalter währen niemals lang“

247 Jahre wird Pampa Kampana alt, sie wird ihre Geschichte niederschreiben: wie sie ein Reich entstehen und zur Blüte kommen ließ, wie sie durch einen einstigen Lehrer und späteren Konkurrenten in die Flucht getrieben wurde, jedoch im Exil auch lernte, zu widerstehen. Pampa Kampana kehrt zurück, Vijayanagar, die Stadt des Sieges, erlebt eine weitere Blütezeit und noch eine. Doch „goldene Zeitalter währen niemals lang“.

24.000 Verse soll ihre Schrift umfassen, am Ende erst erfahren wir, unter welchen Bedingungen sie entstanden. Der Roman gibt vor, deren schlichte Nacherzählung zu sein, nur eine „armselige Übersetzung“, „von einem Autor, der weder Gelehrter ist noch Poet, nur jemand, der gern Fäden spinnt“. Rushdie nutzt also diesen angeblichen Herausgeber, um in der Sprache der Gegenwart sein Märchen zu erzählen. Im Verlauf schaltet er sich wiederholt ein, erklärend, zusammenfassend, manchmal die Verse des Originals zitierend, Fragen zur Perspektive stellend.

Stopp, ein Märchen ist es nicht. Mag Rushdie sich den mit den vielen As klangvollen und ein bisschen albernen Namen Pampa Kampana ausgedacht haben. Mag ihre dreimal mögliche Verwandlung mithilfe einer Feder oder ihr nur durch einen Kuss zu beendender Schlaf hinter einem Dornendickicht an die Sammlung der Brüder Grimm denken lassen – das Königreich, das diese Figur aus von einer Göttin verzaubertem Saatgut entstehen lässt, gab es tatsächlich. Das lässt sich schnell herbeiklicken, das belegt auch die Literaturliste Rushdies in der Danksagung am Ende des Buches. Vijayanagar bestand 1336 bis 1565, umfasste den Süden des indischen Subkontinents. Auch dass Reisende aus dem fernen Portugal dort Handel trieben und Ideen einbrachten, ist verbürgt. Auf sie geht im Roman der zweite Name für Stadt und Reich zurück: Bisnaga – leichter auszusprechen für europäische Zungen.

Der Roman besteht aus historischen und fantastischen Elementen, wort- und bildreich miteinander verwoben, wie wir es schon aus Rushdies „Mitternachtskindern“ kennen, seinem ersten Roman, 1981 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet. Oder aus den „Satanischen Versen“, dem Buch, das den Hass der Islamisten auf den Autor lenkte. Oder aus seinem Roman von 2015, „Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte“, dessen Titel bereits auf die 1001 Nächte der Scheherezade anspielte. Es ist der gute alte Stil des magischen Realismus, dem der Autor neues Leben einflüstert, mit Fiktion und Fakten so geschickt spielend, dass alles glaubwürdig und erfunden zugleich wirkt.

Trennung von Staat und Religion

Rushdie greift, wie zuletzt in „Golden House“ (2017), punktuell Debatten der Gegenwart auf. Zum Beispiel lässt er verschiedene Spielarten der Liebe gleichberechtigt sein. Und Pampa Kampana fällt früh auf, dass sie „in Fragen der Lust eher wie ein Mann und nicht wie eine edle Dame dachte“. Später hadert sie mit ihrer Rolle in der Geschichte: „Manchmal denke ich, dass ich überhaupt kein Mensch bin, dass ich nicht länger existiere, dass es kein ,Ich‘ mehr gibt, mit dem ich mich identifizieren kann.“ Bukka, der zweite König, möchte, dass die Künste geschätzt werden. Er verfügt: „Die Welt des Glaubens sollte von aller weltlichen Macht getrennt sein.“ Ihm, mit dem Pampa Kampana drei Söhne hat, legt sie die eingangs zitierte Achtung der Frau nahe: Ihre drei Töchter stammen von ihrem ersten Mann, seinem Bruder, sie sollen Thronfolgerinnen sein dürfen.

In einem Interview sagte Salman Rushdie kürzlich, wenn ihn der Angreifer Anfang August vergangenen Jahres an anderen Stellen des Körpers getroffen hätte, wäre seine Geschichte beendet worden. Dann würde man diesen Roman, der im Sommer fertig war und am Donnerstag auf Deutsch erscheint, wie sein Vermächtnis lesen. Glücklicherweise können wir die Qualitäten des Buches frei davon erkennen. Der Autor, der jahrelang im Versteck lebte, der jahrzehntelang nur unter Sicherheitsvorkehrungen an öffentlichen Veranstaltungen teilnahm, zeigt, wie sich eine Gesellschaft entwickeln kann, die sich nicht religiösen Regeln unterwirft. Er führt die Kulturen zusammen, den portugiesischen Reisenden und die indische Seherin. Und wenn eine Phase zu lang zu werden droht, tritt eine neue Wendung ein.

Süffig erzählt der fiktive Herausgeber, er schmückt aus, streut Anekdoten mit Tieren ein, zuweilen Witz: wenn die europäischen Essgewohnheiten hopsgenommen werden oder die zukünftige Rolle des Geldes angekündigt wird. Dabei sei auch endlich Bernhard Robben gelobt, schon lange ein versierter Rushdie-Übersetzer, der immer deutsche Entsprechungen findet: „Das Geräusch, das sie machten, um diese Münzen zu beschreiben, klang wie ein Wort aus der Sprache der Ostküste, kacu, was aber, da sie es nicht richtig aussprechen konnten, aus ihrem Mund wie Cash oder Knete klang.“

„Worte sind die einzigen Sieger“

Als nach König Bukka statt der Töchter ein Führungsgremium von Heiligen an die Macht kommt, heißt das hier: „Senat Göttlicher Überlegenheit, kurz SGÜ“. Die „rigide religiöse Kontrolle dieses Senats“ bekämpfte „die Philosophien der Buddhisten und Jainisten und auch der Muslime“. Umbrüche geschehen. Der Ruf nach „Remonstranz“ des Volkes, beschrieben ähnlich heutigen Demonstrationen, wird später von einer Sekte missbraucht und ins Gegenteil verkehrt.

Während Rushdie in seinem schillernden Roman historische Mythen mit den Themen der Gegenwart verknüpft, zeigt sich das zugleich in der Form, wenn er traditionelles und modernes Schreiben verbindet. Vor allem feiert er das Erzählen. Pampa Kampana erinnert sich in ihrem Epos an viele Herrscher: „Während sie lebten, waren sie Sieger oder Besiegte oder beides. Jetzt sind sie weder noch. Worte sind die einzigen Sieger. Was sie taten, dachten, fühlten, gibt es nicht mehr. Es bleiben nur meine Worte, die dies beschreiben.“ Wie gut zu wissen, dass der 75-jährige Autor trotz bleibender Verletzungen weiter schreiben kann, denn dieses Buch zeigt ihn auf der Höhe seiner Kunst. Auf der letzten Seite angelangt, möchte man glatt wieder von vorn beginnen.

Salman Rushdie: Victory City. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Penguin, München 2023. 416 Seiten, 26 Euro