Geschichte

Die Autorin von „Frankenstein“, ihre klugen und gruseligen Gedanken

Timo Feldhaus zeichnet in seinem erzählenden Sachbuch „Mary Shelleys Zimmer“ das Porträt einer Zeit, deren Fragen und Widersprüche heute aktueller sind denn je.

Mary Wollstonecraft Shelley (1797–1851), porträtiert von Richard Rothwell, ca. 1840
Mary Wollstonecraft Shelley (1797–1851), porträtiert von Richard Rothwell, ca. 1840imago/Leemage

In manchen Zeiten wähnen wir uns eher in einer „historischen Epoche“ als in anderen. Angesichts einer globalen Pandemie, der Auswirkungen des Klimawandels, des militärischen Angriffs einer Großmacht auf ein Land im Osten Europas und der damit verknüpften internationalen ökonomischen Verunsicherung erscheint ein Denken in weltweiten, historischen, spannungsgeladenen Dimensionen naheliegend. Entsprechend feiert seit einigen Jahren ein Buchtypus Erfolge, den der Literaturkritiker Gustav Seibt als „Jahrbuch“ bezeichnet. Bekannte Beispiele sind „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies oder „Im Jahr des Aufruhrs. Deutschland 1923“ von Christian Bommarius.

Der Journalist und Autor Timo Feldhaus geht für sein erzählendes Sachbuch „Mary Shelleys Zimmer“ weiter zurück. Als Ordnungsprinzip für einen ganzen Strauß europäischer Persönlichkeiten und bahnbrechender Entwicklungen nutzt er nicht allein eine Jahreszahl, sondern vor allem den Ausbruch des Tambora-Vulkans auf der indonesischen Insel Sumbawa. Die heftigste Eruption der Neuzeit schoss Staubteilchen in die Atmosphäre, die sich durch Höhenwinde verbreiteten und große Teile der Welt verdunkelten. Europa erlebte 1816 ein „Jahr ohne Sommer“. Eine massive Wirtschaftskrise trieb viele Menschen aus Europa in die „Neue Welt“. Missernten, Hungersnöte und Choleraepidemien töteten nach Schätzungen des Historikers Wolfgang Behringer mehr Menschen als der Erste und Zweite Weltkrieg zusammen.

Mary Wollstonecraft Shelley gewinnt den Geschichten-Wettbewerb

Vor diesem Hintergrund erzählt Feldhaus schwungvoll und empathisch von der jungen Mary Godwin (später Wollstonecraft Shelley), die mit ihrem Geliebten Percy Shelley, ihrem kleinen Sohn William und ihrer sich „Claire“ nennenden Halbschwester drei Sommermonate am Genfer See bei Lord Byron und seinem Leibarzt John Polidori zu Gast ist. Wer den Film „Gothic“ von Ken Russell aus dem Jahr 1986 kennt, weiß, wie es weitergeht: „freie Liebe“, Drogenkonsum, Eifersüchteleien und schließlich ein von Byron ausgerufener Wettbewerb, die gruseligste Geschichte zu schreiben. Das bis heute bekannteste Ergebnis dieser Zeit ist der Roman „Frankenstein“, den Mary Wollstonecraft Shelley 1818 anonym veröffentlichte.

Die Entstehungsgeschichte dieses mutmaßlich ersten Science-Fiction-Romans der Weltliteratur ist das Zentrum von „Mary Shelleys Zimmer“ und wird durchsetzt von Szenen im Leben Goethes, Napoleons, Caspar David Friedrichs und des deutschnationalen Erfinders des „Turnens“: Friedrich Jahn. Auch andere historische Persönlichkeiten wie die Malerin Louise Seidler, der Forscher Thomas Stamford Raffles und die einflussreiche Königin Katharina von Württemberg begegnen einem in dem Reigen, in dem oft das eine mit dem anderen und alles mit den Folgen des Vulkanausbruchs verknüpft ist.

Man kann dabei die anekdotische Vermittlung von Geschichte ebenso bemängeln wie die Erzählperspektive, mittels derer Feldhaus einerseits ganz nah aus den Figuren heraus erzählt und andererseits in heutiger Sprache kommentierend eingreift und etwa Mary Godwin als „nerdy“ bezeichnet, Lord Byron mit Jim Morrison vergleicht oder einfach mal schreibt, „Es war wie im Kino“. Andererseits zeigt Feldhaus bei allen (durchaus unterhaltsamen) Details – von damaligen Impfgegnern bis zu Byrons Analyse, die Zeit der Romanciers sei vorbei – auch einen Blick für größere Zusammenhänge und fokussiert in der Figur der Mary Godwin auf die historische wie aktuelle Herausforderung als freigeistig-progressive Intellektuelle in einem von wissenschaftlichen und sozialen Umbrüchen erschütterten patriarchalen Umfeld zu bestehen.

Infobox image
Rowohlt Verlag
Das Buch
Timo Feldhaus: Mary Shelleys Zimmer.
Als 1816 ein Vulkan die Welt verdunkelte. Rowohlt, Hamburg 2022, 320 Seiten, 26 Euro

Bewusst erinnert Feldhaus mit manchem nicht nur sprachlich an heute: gewaltige wissenschaftliche Errungenschaften und massive Fortschrittsängste, eine enger zusammenrückende Welt und das Erstarken national-chauvinistischer Abgrenzung, die Hoffnung auf die Vernunft des Menschen und die bange Frage, ob diese nicht zu unserem größten Irrweg wird. Dezent legt Feldhaus „seiner“ Mary eine kluge und berührende Haltung in den Kopf: „So hatte sie nicht nur die Kraft, den Optimismus und den Glauben ihrer Mutter erfahren, sie hatte auch verstanden, dass nach dem zerplatzten Traum der Französischen Revolution und den eingerissenen Ideen der Vernunftlehre, an die ihre Mutter so fest geglaubt hatte, es nun darum gehen musste, die Fragilität und den Zweifel nicht zu bekämpfen, sondern anzuerkennen und sogar mitten in ihn hineinzulaufen wie in ein Feuer.“

„Frankenstein“ erschien in einer Auflage von 500 Stück und interessierte jahrzehntelang kaum jemanden. Heute ist der Schauer- und Bildungsroman nicht nur ein Klassiker, sondern lohnt – wie auch Mary Wollstonecraft Shelleys Zukunftsroman „Verney, der letzte Mensch“ – aufgrund seiner immer noch aktuellen Themen und der gut gealterten Ansichten seiner klugen Autorin absolut die geduldige (Neu-)Lektüre. Allein dazu angeregt zu haben, ist bereits kein geringer Verdienst von Feldhaus und „Mary Shelleys Zimmer“.