In Saporischschja in der Südukraine befiehlt Stalin Ende der 1920er-Jahre den Bau des Dnjepr-Staudamms. Schnell und effizient soll das gehen, auf den Verschleiß der Arbeitskräfte braucht keine Rücksicht genommen werden. Die Personalchefin Darja ringt als ehemalige Adlige um einen besonderen Status. Sie ist „Die rote Herzogin“, die Svetlana Lavochkinas atemlosen, schrägen und zuweilen auch gruseligen Roman den Namen gegeben hat. Die Autorin kommt selbst aus Saporischschja, lebt aber seit 1999 in Leipzig und wird dieser Tage nach ihrem Insider-Blick gefragt. Wir trafen sie nach einer Podiumsdiskussion.
Sie haben die Ukraine schon vor vielen Jahren verlassen. Nun werden Sie zu dem Krieg befragt und sitzen auf Podien. Wie leben Sie damit, dass die Ukraine Ihnen jetzt so nahekommt?
Mir fällt da eine Zeile aus einem Song des Rockmusikers Jurij Schewtschuk von DDT ein. Bitter singt er von seiner Verantwortung als Künstler: Ich habe diese Rolle bekommen, ich habe mein Glückslos gezogen. So geht mir das. Ich bin eigentlich ein zurückhaltender Familienmensch, arbeite als Englisch-Lehrerin an der Waldorfschule, schreibe meine Bücher. Aber jetzt muss ich diese Rolle auch ausfüllen, das ist ein innerer Befehl.
Was bedeutet das konkret?
Ich werde gebraucht: als Freundin, als Übersetzerin und als jemand, der berichten kann.
Haben Sie noch Verwandte dort?
Meine Eltern sind auch in Deutschland. Entferntere Verwandte habe ich noch und viele Freunde. Jeden Morgen schaue ich zuerst, ob sie noch am Leben sind. Wissen Sie, wenn man ein Land verlässt, bedeutet das ja nicht, dass es damit für einen verschwindet. Die Seele des Erwachsenen ist angefüllt mit dem, was er in der Kindheit und Jugend erlebt hat. Und meine Bücher sind auf diesem Humus gewachsen.

Die rote Herzogin. Roman. Aus dem Englischen von Diana Feuerbach. Voland & Quist, Berlin 2022. 128 Seiten, 20 Euro.
„Die rote Herzogin“ spielt dort zu finsteren Zeiten, Sie gestatten sich Humor, aber auch Sarkasmus.
Ja, ich wollte dem Hässlichen mit Schönheit begegnen. Ich erzähle vom Totalitarismus auf meine, auf eine expressionistische Weise. Auch mein neuestes Buch, das erst in den USA erschienen ist, spielt in der Ostukraine, im Donbass. „Carbon“ heißt es, wie Kohlenstoff, es ist ein Versroman. Aber als ich damit fertig war, dachte ich, nun habe ich über die Ukraine alles gesagt, was ich sagen wollte. Ab jetzt werde ich kosmopolitischer schreiben, dann aber kam der Krieg. Die Ukraine wird anscheinend in meinem Schreiben immer präsent sein.
Das sind Sie sowieso und müssen das bitte erklären: Sie sind mit der russischen Sprache aufgewachsen, haben erst später Ukrainisch gelernt, sind als jüdischer Kontingentflüchtling nach Leipzig gekommen und schreiben auf Englisch.
Was soll ich sagen: Auf meinem Butterbrot ist alles miteinander verschmiert. Dass wir Juden sind, haben wir meistens verschwiegen, um dem Mobbing zu entgehen. Das Sowjetische war mir ziemlich unangenehm – die Pioniere, die anti-westliche Propaganda, die Monotonie, dass man nicht reisen konnte. Ich kam glücklicherweise auf eine Schule, in der ab der 1. Klasse Englisch gelehrt wurde. Diese Sprache hat mich sofort verzaubert. Sie war wie eine Verkleidung für mich, eine andere Identität. Mit Englisch habe ich mich von der Sowjetunion entfernt, es war wie eine innere Emigration.
Dennoch: Warum wählten Sie, in Deutschland lebend, das Englische als Ihre Literatursprache?
Ich wollte schon immer schreiben, aber ich habe es mir nicht zugetraut. Auf Russisch gibt es diese Giganten, Tolstoi, Dostojewski und so weiter. Nabokov war mein Vorbild. Ich war 32, als ich meine erste Kurzgeschichte schrieb. Und, na ja, von der deutschen Sprache bin ich sowieso umgeben. Für die Kunst muss man etwas Rares empfinden und pflegen. Das ist Englisch für mich.
Gibt es Ihre Bücher auch auf Ukrainisch?
Noch nicht. „Carbon“, das neueste, habe ich übersetzt und bei einem Wettbewerb eingereicht. Wenn ich da einen Preis bekomme, besteht die Chance, auch gedruckt zu werden. Jetzt ist er in Lwiw auf der Shortlist.
Wie bitte? Jetzt, im Krieg?
Ja, ich habe gerade erst die Nachricht bekommen. Stellen Sie sich das vor, diese mutigen Menschen sind von Raketen bedroht und versammeln sich trotzdem, um über Literatur zu sprechen.
Auf vielen Treffen anstelle der Leipziger Buchmesse ging es darum, wie Schriftsteller auf den Krieg reagieren sollen. Literatur ist langsam. Wie sehen Sie das?
Ja. Romane müssen warten, daran sitzt man drei, vier Jahre. Aber die Poesie ist schnell. Und ich denke, das ist jetzt die Aufgabe der russischen Autoren. Ja, sie dürfen das Wort „Krieg“ nicht benutzen, aber wer kennt sich mit Metaphern aus, wenn nicht die Dichter? Ich weiß nicht, wie die Russen je diese Schande von sich abwaschen sollen.
War die Stimme der kritischen Russen zu leise?
Es gibt welche, die vor Putin gewarnt haben: der Sänger und Poet Boris Grebenschtschikow zum Beispiel. Bei dem oppositionellen Dichter Sergej Gandlewski frage ich mich, wie lange sie ihn noch dulden. Und der Satiriker Wiktor Schenderowitsch, der einen Appell gegen den Krieg mit unterschrieben hat, ist jetzt nach Israel ausgewandert. Es gibt leider viele talentierte Menschen, die sich Putin zugewandt haben. Ich erlebte das in der eigenen Familie: 2007 habe ich eine Verwandte in Moskau besucht, die war regelrecht betört von ihm. Sie kam 2014 zu uns nach Leipzig, fand alles schlimm und lobte immer die Sauberkeit und Ordnung in Russland. Aber jetzt hat sie es begriffen. Mit ihren 74 Jahren ist sie nach Israel ausgewandert.
Was wünschen Sie sich von uns, Ihren Lesern in Deutschland?


