Sonnenschein, ein paar Schleierwolken am blauen Himmel, die Luft hat ungefähr 20 Grad. Nancy Campbell, Samuel-Fischer-Gastprofessorin der Freien Universität Berlin, geht ohne Zögern in den Schlachtensee. Dort für ein Foto zu stehen, war ihre Idee: „Das wird meinen Studierenden gefallen: die Professorin im Wasser.“
„On Water and other Voices“, so heißt das Seminar, das sie im Rahmen ihres Gastaufenthalts am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU gibt. Es beschäftigt sich mit der Begegnung von Wasser und Literatur, aber auch mit ungewohnten Arten der Wahrnehmung. Denn das Wasser und seine Geräusche können helfen, so Nancy Campbell, überhörten, verstummten, verschütteten Stimmen Aufmerksamkeit zu verschaffen. An diesem Vormittag am See sind vor allem der Wind in den Blättern und Vögel zu hören. „Ich habe hier den Schilfrohrsänger kennengelernt“, erzählt Campbell und zückt das Handy, um seinen englischen Namen („sedge warbler“) ins Deutsche zu übersetzen. Natürlich war sie auch schon mit ihrer Seminargruppe am Schlachtensee.

Nancy Campbell, die nahe der schottischen Nordseeküste aufwuchs, ist Schriftstellerin. Ihre Themen sind Landschaften und Kulturen, beziehungsweise das, was sie verbindet oder bedroht: Zum Beispiel in „How To Say ‚I Love You‘ in Greenlandic“. Es handelt von verschwindenden Sprachen und Landschaften der Arktis. Das schmelzende Eis beschäftigt Campbell, seit sie als Gast des nördlichsten Museums der Welt einen Winter auf der grönländischen Insel Upernavik verbrachte. Sie veröffentlichte danach unter anderem Gedichte über das harte Leben im hohen Norden („Disko Bay“) und ein Buch über Eis („The Library of Ice“). Auf Deutsch ist von ihr „Fünfzig Wörter für Schnee“ erschienen, wo sie Vokabeln, Mythen, Geschichten rund um die schöne, gefährliche, empfindliche Substanz auffächert.
Klimawandel in Grönland erlebt
Was die Erderwärmung für die Arktis bedeutet, ist in Grönland unübersehbar: „Ich habe miterlebt, wie sich der Klimawandel unmittelbar und verheerend auf das Leben der indigenen Völker auswirkte: Meine Inselnachbarn waren mit traditionellem Wissen über das Meereis aufgewachsen. Sie erzählten mir von Todesfällen durch Meeresverschmutzung oder tragische Unfälle beim Überqueren von dünnem Eis.“
Aber natürlich beschäftigen Campbell auch die zu warmen, zu trockenen Sommer weiter südlich. Inzwischen leiden selbst die britischen Inseln unter Hitzewellen. Die heißen Junitage in Berliner verbrachte sie am liebsten im Grünen, die Freie Universität liegt ja nahe am Grunewald, „so konnte ich mich in den Grunewald, an den Wannsee und die Krumme Lanke zurückziehen“.
Ihr neuestes Buch „Thunderstone“ erzählt von einem Sommer am Stadtrand von Oxford. Sie bezog dort einen Caravan, in den sie nach ihrer Gastprofessur in Berlin zurückkehren wird. Der autobiografische Roman erzählt aber auch, wie sie während des englischen Lockdowns ihre Freundin pflegte, die nach einem Schlaganfall die Sprache verlor. Kaum Greifbares wie die Silben einer arktischen Sprache oder die verschütteten Wege von Worten durch ein Gehirn verbinden sich in ihrem Schreiben mit Landschaften, eiskaltem oder heißem Wetter, den Pflanzen der Brache rund um den Wohnwagen oder knirschendem Schnee.
Ihre mit wichtigen Preisen geehrten Texte, egal ob Prosa oder Gedicht, haben Kraft, Zuversicht und Witz. Dass Campbell für ein Foto in den Schlachtensee steigt und sich anschließend bei einem längeren Bad (mit der Journalistin) gutgelaunt über Teiche, Seen und Meere, über Gedichte und Romane, Politik und Poesie unterhält, passt zu einer Autorin, die sich den Elementen direkt zuwendet. Beim Schwimmen, beim Hinhören, beim Lesen oder wenn sie in „The Library of Ice“ beschreibt, wie aus den Tiefen der Arktis gebohrtes Eis Auskunft über das Wetter vor tausenden Jahren gibt.
Das Große und Kleine, das Zerstörerische und Zerstörbare, Wörter und die physisch erfahrbare Welt sind bei ihr nie weit voneinander weg. Und auch die ganz großen Probleme sind es nicht, das zeige ihr Seminar. Die geopolitische Bedeutung des Wassers sei in den letzten Wochen mehr als deutlich geworden, durch die Überschwemmungen in der italienischen Region Emiglia-Romana, wo einer ihrer Studenten aufgewachsen ist, oder die Zerstörung des Kachowka-Staudamms am Dnipro. „Diese Ereignisse und die Literatur, die wir lesen, veränderten den Klang unserer Gespräche, unterstreichen die zentrale Bedeutung von Umweltfragen.“
Einsatz gegen übergriffige Kultur
Solche Fragen prägen ihre Arbeit, erzählt sie: „Ich schreibe über Landschaft, ich schreibe über Kultur und Kunst, ich schreibe über die Menschen, denen ich begegne. Ich habe nicht vor, ein polemisches Traktat zu verfassen, aber mit diesen Themen werden die Menschen in dieser Zeit unweigerlich das ‚Politische‘ in meiner Arbeit finden.“ Und gerade ihr ganz und gar nicht polemisches Schreiben ist ein bestechender Einsatz gegen eine zerstörerische, laute, übergriffige Kultur. Campbell sagt es so: „Poesie ist eine andere Art, Aufmerksamkeit zu schenken.“ Es ist eine Art der Aufmerksamkeit, die das Gegenüber nicht vereinnahmt, es nicht dominiert oder ausbeutet.
Nach dem Gespräch am und im Schlachtensee wandert Nancy Campbell zu seinem kleineren Nachbarn, der Krummen Lanke, um dort noch ein bisschen zu arbeiten. Direkt am Wasser kann sie das offenbar sehr gut. Und der Name dieses Gewässers passt gut zu ihrem Schreiben, er lenkt die Aufmerksamkeit auf den See selbst, auf die geschwungene Form, in der er zwischen den Bäumen liegt.


