Als sie 20 Jahre alt war, erzählte die Mutter der Tochter, sie sei der Tropfen gewesen, „der das Fass zum Überlaufen brachte“. Der Grund, der sie endgültig in der Ehe festhielt. Ungewollt. Hat sie das davor gespürt? Was war das für eine Familie? Sigrid Nunez erkundet in dem Buch „Eine Feder auf dem Atem Gottes“, wie sie wurde, wer sie ist.
Die Autorin hat eine riesige Leserschaft hierzulande. Ihr Buch „Der Freund“ über eine Frau, die nach dem Tod eines engen Freundes dessen riesige Dogge erbt, 2020 erschienen, begeisterte als Roman über Weiterleben und Trauern, über das Schreiben und die Formen der Liebe. Nunez’ suchender, empathischer Stil, ihre Art, vom Beobachten zum Erinnern überzugehen und Emotionen in Handlungen zu übersetzen, ist etwas Besonderes, das auch Vielleser überrascht und beglückt.
Unaussprechlicher Name
Über die Autorin wusste man damals nichts oder nur wenig, eine panamaisch-chinesisch-deutsche Herkunft vermerkte der Klappentext. Hier sind die Antworten: Nunez war der Nachname der Frau ihres chinesischen Großvaters in Panama. Ihr Vater verbrachte die Kindheit in Shanghai, kam mit etwa zwölf Jahren nach New York, durch die Einberufung zur Armee im Zweiten Weltkrieg wurde er Bürger der Vereinigten Staaten. In Deutschland stationiert, lernte er seine Frau kennen. Sie hat nordische Vornamen für Sigrid und deren Schwestern ausgesucht, unaussprechlich für ihn.
„Ich wäre gern ein typisch amerikanisches Mädchen mit einem Namen wie Sue Brown gewesen“, schreibt Nunez. Sie lebte in einem ärmlichen Viertel mit Eltern, die zu stolz waren, Sozialhilfe zu beantragen. Der Vater arbeitete gleichzeitig in zwei Jobs, seine Sehnsucht nach China behielt er für sich. Die Mutter, für die Deutschland nicht ihr „altes Land“ sondern weiter das Zuhause war (ein idealisiertes, wie sie bei einem Besuch feststellen musste), lernte gut Englisch und empfand sich als dem Ehemann überlegen. „Mein Vater war nicht jemand, der nicht sprach, sondern jemand, dem niemand zuhörte.“
In vier Teile ist das Buch gegliedert. Der erste gehört dem Vater, der nächste der Mutter. Nunez setzt eigene Erinnerungen mit dem zusammen, was sie recherchiert hat, will den Eltern gerecht werden. Den Vater kannte sie kaum, die Mutter vielleicht zu gut. Als sie mal als Kind nach einem Unfall wieder zu sich kam, „sah ich etwas“, schreibt sie, „das ich nie zuvor gesehen hatte, dessen war ich mir sicher: das Gesicht mütterlicher Besorgnis“.
Sigrid Nunez zeigt die Schmerzpunkte
Dieser Roman von Sigrid Nunez ist bereits kurz nach der Originalausgabe 1995 auf Deutsch erschienen. Es war noch nicht seine Zeit. Jetzt aber fügt er sich als meisterhaftes Beispiel in eine ganze Reihe literarischer Identitätssuchen. In ihrer Offenheit kommt einem Sigrid Nunez erschütternd nahe, macht ihre Schmerzpunkte spürbar.
In den Teilen drei und vier ergründet die Autorin sich als weibliches Wesen: Zunächst die Beziehung zum Körper in einer Teenager-Phase, als sie Ballett tanzte; dann die Beziehung zu einem Russen, der ihr Englischschüler war. Einige Sätze über Liebe und Sprache lassen an ihren großen Erfolg „Der Freund“ denken. Sie, deren Eltern nicht heimisch wurden in den USA, hört von Vadim eine unerwartete Kategorisierung: „Du bist mein Amerika“. Für ihn aber war das besitzanzeigende Pronomen das wichtigste in dem Satz. Das wurde gefährlich für die Frau.


