Direkt vor unserem Haus hängt am Laternenmast die Tafel, die von dem im März 1942 angeordneten „Kennzeichnungszwang für jüdische Wohnungen“ mit einem schwarzen Stern berichtet. Eine weitere der vielen Maßnahmen, mit denen die Juden vor den Augen aller anderen stigmatisiert wurden. Denn damit wusste nun jeder im Haus, hinter welcher Tür Juden wohnten.
Täglich kam ich an diesem verstörenden Schild vorbei, es war wie eine stumme Mahnung, mich endlich den irritierenden Fragen zu stellen, die mich, seit ich die Namen der aus unserem Haus Verschleppten kannte, nie mehr losgelassen hatten.
Wer waren die Verschwundenen? Woher kamen sie? Wohin wurden sie verschleppt? Hatten sie Kinder und andere Familienangehörige, die bei ihnen waren? Aber wenn ich nach langen Arbeitstagen im vierten Stock vor unserer Wohnungstür stand, verdrängte ich ihre bohrende Aufforderung, nach Antworten zu suchen, und freute mich auf unsere Kinder, die hinter der Tür warteten.
Nur morgens bei meinen Yogaübungen auf dem Fußboden in unserem Wohnzimmer konnte ich nie verhindern, dass mein Blick fast zwanghaft zu der Lücke im Stuck der Zimmerdecke huschte und mich dabei immer wieder die Frage überfiel, wer in den Jahren des Nationalsozialismus in diesem Zimmer an die Decke gestarrt haben mochte.

Buchpremiere: 3. Mai 2023, 19 Uhr, Café Haberland, in Kooperation mit Quartier Bayerischer Platz e.V. und der Buchhandlung Bayerischer Platz.
Lesung 11. Mai 2023, 19.30 Uhr, Buchhandlung „Der Divan“, Reichsstraße 104
Aus der Lektüre des Katalogs „Orte des Erinnerns“ wusste ich nur, dass die meisten jüdischen Bewohner unseres Hauses 1942 „in den Osten“ abtransportiert worden waren. Von ihnen kannte ich Namen und Deportationsdaten, mehr aber auch nicht. Ich hatte kein Bild, keine Gesichter, keine Körperhaltung vor Augen, die mir etwas über diese Menschen erzählt hätten. Vielleicht sollte es so sein, dass ich mir selbst ein Bild von ihnen machen musste.
Spurlos im Meer der Ermordeten
Es dauerte Jahre, bis ich anfing, nach ihnen zu suchen. Besonders aussichtsreich schien mir dieses Vorhaben nicht. Ich hatte es bei den Deportierten mit lauter Unbekannten zu tun, die spurlos im Meer der Millionen Ermordeten verschwunden zu sein schienen. Wie sollte ich über sie etwas herausfinden können? Wo anfangen? Ich war oft ratlos, manchmal kurz davor, gleich wieder aufzugeben. Aber ich kapituliere nicht gern. Vielleicht habe ich damals vor allem deswegen weitergemacht.
Zu Beginn meiner Nachforschungen ließen meine Zweifel mich halbherzig sein, es war bestenfalls eine Probebohrung, die ich unternahm. Ich mäanderte ziemlich wahllos durch mögliche Quellen, blätterte in autobiografischen Büchern, forschte in meiner Literatur zum Nationalsozialismus, las Zeugnisse Überlebender und stöberte in digitalen Archiven herum – beklagenswert unsystematisch und doch immer darauf hoffend, dass sich plötzlich ein Sesam-öffne-dich meiner erbarmen und mich mögliche Querverbindungen zu den einstigen Bewohnern unseres Hauses entdecken lassen würde. Passierte aber nicht. Jedenfalls zeigte sich nichts Vielversprechendes.
Manchmal fand ich eine Sterbeurkunde mit Tag, Monat, Jahr, Uhrzeit und Ort des Todes; dann wusste ich, dass Eduard Marcus, der Mann von Clara Marcus, schon 1927 gestorben war oder die Brandus-Söhne Werner und Max 1937 entkommen waren, es gab Schiffspassagen und US-Einbürgerungszertifikate, die ihre Namen trugen. Aber das blieben disparate Einzelfunde, die mich nicht voranbrachten.

Ergiebiger war zuweilen die eine oder andere Heiratsurkunde, die man über Standesamt-Abfragen im Berliner Landesarchiv oder bei Ancestry, der weltweit operierenden Website für Ahnenforschung, auffinden kann. Darauf standen die Namen von Brauteltern und Trauzeugen, und häufig erfuhr ich dabei auch den Beruf des Bräutigams. Sofern der promoviert war, ließ sich vielleicht noch seine Doktorarbeit in der Staatsbibliothek finden. Der Rechtsanwalt und Notar James Brandus hatte beispielsweise 1891 mit einer Arbeit „Über den Nießbrauch an Inhaber-Papieren mit Prämien“ promoviert – aber was sollte mir das über ihn erzählen? Bestenfalls, dass er damit einen Titel erworben hatte und sich als Anwalt auf Wertpapiere spezialisiert hatte oder spezialisieren wollte. Auch das war keine Fährte, die sich aufzunehmen lohnte.
Drei von 24 Namen der Deportierten
Lichtblicke in dieser Zeit bleierner Unergiebigkeit waren das Berliner und das Jüdische Adressbuch, zwei Schatztruhen, in denen das Wühlen lohnte. Die Ausgaben des Berliner Adressbuches sind bis 1943 nach Straßen mit den entsprechenden Hausnummern geordnet – für meine Zwecke ein Glücksfall. So konnte ich Jahr für Jahr erkennen, wer in der Berchtesgadener Straße 37 gewohnt hatte, wer ausgezogen, wer hinzugestoßen war. Und ich erfuhr, wer von der Liste eingetragener Mieter verschwand, dennoch aber aus diesem Haus deportiert wurde. Oskar Mendelsohn zum Beispiel: Er war ab 1941 nicht mehr als Mieter unter unserer Adresse registriert, wurde aber 1942 genau aus diesem Haus zur Deportation abgeholt. Was hatte das denn zu bedeuten?
Unter den in den 1930er-Jahren im Berliner Adressbuch Gemeldeten waren nur drei von den vierundzwanzig Namen, die ich aus dem Katalog als Deportierte kannte: Oskar Mendelsohn, Hedwig Steiner und Martha Cohen. Hingegen wurden dort Namen als jüdische Mieter dieses Hauses aufgeführt, die mir neu waren: Moritz Kallmann, Louis Kayser, Max Lewin, Kurt Baron, Hermann Bratt, Edith Jacob und die „Rentnerin K. Seldis“. Und als Eigentümer unseres Hauses: Dr. Siegfried Kurt Jacob, auch sein Name war im Katalog „Orte des Erinnerns“ unter den Deportierten gar nicht aufgetaucht.
Wer waren diese Menschen? Waren sie der Verfolgung entkommen? Oder bereits gestorben wie Eduard Marcus? Und warum waren zahlreiche der (laut Katalog) aus unserem Haus Abgeholten nicht im Berliner Adressbuch unter unserer Straße und Hausnummer aufgeführt? Alfred Rosenbaum zum Beispiel. Oder Else Herzfeld. Das Ehepaar Brandus, die Bergers. Ida Wolle. Max Markus. Und, und, und. Ein immer dichter werdendes Knäuel an Rätseln.
Manche dieser Namen oder zumindest Spuren von ihnen fand ich – sofern sie und ihre Familien schon länger in Berlin gelebt hatten – im jüdischen Adressbuch, das ursprünglich als Verzeichnis aller Mitglieder der jüdischen Gemeinde (mit Anschrift, manchmal auch dem Beruf) entstanden war. Es existierte zwar nur noch in zwei Ausgaben, von 1929/1930 und von 1931/1932, schenkte mir aber einige wichtige Informationen. Ich erfuhr, wer schon vor der Deportation in Schöneberg gewohnt hatte, wenngleich in einer anderen Straße; wer aus Charlottenburg oder Wilmersdorf oder wer offensichtlich aus einer ganz anderen Stadt gekommen war, so wie das Ehepaar Berger aus Krefeld und Frechen. Der mir bis dahin unbekannte Hermann Bratt tauchte im Jüdischen Adressbuch als Kürschner auf, er hatte eine Pelzwerkstatt in der Niederwallstraße, heute eine der teureren Adressen in Berlin-Mitte.

Einen neuen Namen entdeckte ich oft nur zufällig, wenn mein Auge durch Deportationslisten wanderte, die man auf den Seiten der als Quellen völlig unverzichtbaren Arolsen Archive findet, Hermann Salomon Hirsch Kriss war einer von ihnen, im Laufe der Recherche kamen weitere Namen hinzu. Wie und warum sie alle bis zu ihrer Deportation in der Berchtesgadener Straße 37 gewohnt hatten, ohne im Berliner Adressbuch verzeichnet zu sein, wusste ich nun immer noch nicht, fing aber an zu ahnen, dass sie ihre Letztadresse bei uns im Haus nicht selbst, nicht freiwillig gewählt hatten. Dazu wollte ich mehr wissen, mir diese Unstimmigkeit erklären können.
Fehler durch die Nachlässigkeit der NS-Behörden
Wegen der vielen Namensgleichheiten, die es unter den Berliner Jüdinnen und Juden gab, falscher Datierungen und den häufig auftretenden unterschiedlichen Schreibweisen desselben Namens sind Irrtümer, Auslassungen und Fehler bei meiner Rekonstruktion einiger der hier vorgestellten Geschichten nicht auszuschließen.
Der eine oder andere Fehler, auf den ich gestoßen bin, ist den Nachlässigkeiten der NS-Behörden zuzuschreiben. So kämpfte ich bei meinen Nachforschungen länger mit einer doppelten Hedwig Steiner, die eine 1889 geboren, die andere 1890, aber wundersamerweise beide am gleichen Tag, nämlich dem 19. Januar. Das machte mich stutzig. Die eine wurde nach Riga deportiert, die andere tauchte 1944 als Gefangene im Konzentrationslager Stutthof auf. Bei der Registrierung in Stutthof ist dieser Datierungsfehler passiert, der dazu führte, dass es in allen möglichen Online-Archiven künftig fälschlicherweise eine am 19. Januar 1890 geborene Hedwig Steiner gab, die nie existiert hat. Es war immer die 1889 geborene Hedwig Steiner aus unserem Haus, die nach Riga deportiert wurde und zwei Jahre später nach Stutthof kam.
Edith Jacob, die Frau des Besitzers unseres Hauses, musste entkommen sein, in keiner der Datenbanken, weder im Berliner Gedenkbuch noch in Yad Vashem oder Theresienstadt tauchte ihr Name auf, allerdings auch nicht in der Auswandererkartei der Jüdischen Gemeinde, wo die offiziell Ausreisenden verzeichnet wurden. Lange hatte ich Edith in Quito, der Hauptstadt von Ecuador, gewähnt. Ich hatte einen Brief von „Edith Jakob“ gefunden, den sie am 17. März 1948 an „Mr. Myer Cohen“ von der IRO, der International Refugee Organization, geschrieben hatte. Sie bat um finanzielle Unterstützung („a loan“) von 600 Dollar, um endlich weiter in die USA auswandern zu können. Sie und ihr Mann lebten seit Januar 1942 (hier hat sie sich vertan, es muss heißen „1943“) in Quito, schrieb sie, sie seien „mit dem letzten Transport“ aus Deutschland entkommen, hätten sich bis jetzt in Quito durchgeschlagen, aber nun setze ihnen beiden das Klima gesundheitlich dermaßen zu, dass sie fürchteten, bald nicht mehr für ihren Lebensunterhalt sorgen zu können. Das Affidavit für die USA hätten sie bereits, aber die Reisekosten von 600 Dollar könnten sie nicht aufbringen. Ob Mr. Cohen helfen könnte, eine Organisation oder eine Privatperson zu finden, die bereit wäre, ihnen das Geld zu leihen? Sie würden jede Art von Arbeit annehmen, um es baldmöglichst zurückzuzahlen.
Als ich den Brief in den Arolsen Archiven entdeckte, dachte ich, dahin also sind Siegfried Kurt Jacob und seine Frau geflüchtet, vermutlich zu Ediths Mutter Klara. Sie hatte, das wusste ich inzwischen, bei der Jüdischen Gemeinde das Auswanderungsziel Ecuador angegeben. Stutzig machte mich nur, dass die Brief-Edith ihren Nachnamen mit „k“ statt „c“ schrieb, aber nun gut, solche Differenzen in den Schreibweisen kamen oft vor.

Wochen später fand ich eine undatierte UK (United Kingdom)-Registrierung von Edith Jacob (diesmal mit „c“) in Chislehurst, England. War das die Gesuchte oder doch die Brief-Edith aus Quito? Ich musste die Geburtsdaten dieser beiden Ediths herausfinden, sie konnten mir am ehesten die Frage beantworten, welche von beiden die von mir gesuchte Edith war.





