Den Rahmen dieses Romans, so könnte man sagen, bilden Briefe an die Großmutter. Doch ist dies überhaupt ein Roman? Und sind die Briefe wirklich an die Großmutter gerichtet? Kim de l'Horizons „Blutbuch“, nominiert für den Deutschen Buchpreis (der am Montag verliehen wird), gibt viele Rätsel auf, ja, stiftet merklich lustvoll Verwirrung. Das fängt schon beim Klappentext an: Kim de l'Horizon, so steht da zu lesen, sei „geboren 2666 auf Gethen“ und studiere „Hexerei bei Starhawk“. Alles klar. Irgendwie muss dieses Hexenwerk von einem Buch also aus der erfreulicherweise sprachsprudelnden Zukunft um circa 2700 herum also zu uns zurückgelangt sein in unsere triste Gegenwart. Sehr erfreulich.
Aber der Reihe nach, soweit es geht: Das erzählende Ich im Buch heißt praktischerweise wie Kim de l'Horizon selbst: Kim. Und es arbeitet sich (ein bisschen wie das Erzähler-Ich aus Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit “, das praktischerweise auch Marcel heißt) an der in den Kindheitsjahren überpräsenten Großmutter ab. Großmeer heißt sie im „Blutbuch“, denn Kim de l'Horizon verwendet im Roman auch viel Bärndütsch, die Berner Spielart von Schweizerdeutsch, das seinerseits unter Napoleon viel Französisch abbekam.
La mère ist die Mutter im Französischen, wobei le mer tatsächlich auch das Meer bedeutet. Großmeer. Schier unergründlich tief, wobei, um im Sprachbild zu bleiben, die Wasseroberfläche blendet und den Blick ins trübe Tief verwehrt. Denn die hassgeliebte Großmeer ist eine, die viel redet und dabei doch wenig sagt, wenn wir Kim glauben wollen: „Dein Reden hasst das Schreiben“, heißt es im Roman, „es ist das genaue Gegenteil des Schreibens: Es versucht, in seiner Masse alles, worum es geht, zu verdecken. Dein unablässiges Reden ist eine Sprachlosigkeit. Ich glaube, es ist genau dies, was das Schreiben vor langer Zeit in mir ausgelöst hat.“

Deutungshoheit über den eigenen Körper
Kim also schreibt, wobei die Großmeer im Pflegeheim ob ihrer Demenz und weniger klarer Momente eine etwas fragwürdige Adressatin dieses selbstvergewissernden Schreibens ist, ähnlich einem anderen Meisterwerk queerer Autofiktion, Ocean Vuongs „Auf Erden sind wir kurz grandios“ von 2019, wo der Erzähler an seine Mutter schreibt, die Analphabetin ist. Kim versteht sich als nichtbinär, also weder männlich noch weiblich, und versucht, um sich und den eigenen Körper und die Deutungshoheit darüber zu schützen, eine hochsensible Sprache für eine magisch-realistische Erzählweise zu finden, die alles kann von ultrapoetisch bis Hardcore-Poposex.
„Blutbuch“ heißt das Buch, aber in diesem Buch gibt es eine Blutbuche, einen Baum, der auch eine botanische Metapher ist, denn es geht Kim darum, die Wurzeln der Familie freizulegen, um dadurch Freiheit zu erlangen. Schon die Mutter von Kim hat sich auf Ahnensuche begeben, um Vorfahren-Frauen nachzuspüren, die ihrerseits mit ihrem Frausein haderten.
„Blutbuch“ ist mit seinen mehrstimmigen Perspektivwechseln, seinen schonungslosen Schilderungen von Übergriffigkeiten, seinen formal experimentellen Einsprengseln (quasi-geisteswissenschaftlichen Fußnoten, Sex-Tagebuchlisten, Kurz-Vitae der Vorfahrinnen) eine anspruchsvolle Lektüre, aber auch eine sehr beglückende – so als würde man einen Baum anblicken, der sein Wurzelwerk kopfüber in die Luft ausstreckt und dessen Krone tief in den Boden hineinwächst. Man kann nur staunen. Und will sich etwas Mut abgucken, so zu wachsen, wie es der eigenen Natur entspricht.


