Es ist die unmittelbare Nachkriegszeit, halb Berlin liegt noch in Trümmern, die Stadt ist in Sektoren eingeteilt, von Soldaten der vier alliierten Armen und einer notdürftig neu organisierten Polizei kontrolliert. Ein jugendlicher Verbrecher, von den Zeitungen zum „Gentleman-Gauner“ stilisiert, vermag sich immer wieder dem Zugriff zu entziehen.
„Es gab so viele Verbrechen in Berlin, dass niemand genau hinsah“, schreibt Daniel Höra in seinem Buch „Berlin Gangster“, einem Kriminalroman entlang der wahren Geschichte von Werner Gladow, der als einer der ersten Bürger in der DDR zum Tode verurteilt wurde. Wir treffen den Autor, um herausfinden, was ihn an dieser Figur für heute gereizt hat.
Herr Höra, Berlinern ist die Gladow-Bande ein Begriff. Warum wollten Sie über die Verbrecher schreiben? Gibt es nicht schon genug über sie?
Genug? Da muss ich Ihnen gleich widersprechen. Ich bin durch eine Dokumentation über Werner Gladow im Spätprogramm des RBB auf das Thema gestoßen. Die ganze Geschichte fand ich so vielfältig, der Gladow ist eine hochinteressante Figur, wie er die Zonengrenzen ignorierte, die Polizei immer wieder narrte, auch sein Größenwahn ist ein tolles Thema – es hat mich damals die halbe Nacht wachgehalten, ich wollte darüber schreiben. Beim Recherchieren habe ich nicht sehr viel dazu gefunden: einen Kolportage-Roman von Bernd Oertwig, außerdem ein Sachbuch von Wolfgang Mittmann, einem ehemaligen Kriminalpolizisten, und natürlich den Film von Thomas Brasch „Engel aus Eisen“. Dann habe ich ziemlich schnell etwas konzipiert und mit meiner Agentin besprochen, die hat mich ermutigt.
Kennen Sie den Roman von Klaus Schlesinger?
„Die Sache mit Randow“, ja, aber das ist ja ganz anders erzählt, von einer Gegenwartsebene ausgehend. Was mir aufgefallen ist, sind die vielen Mythen über die Gladow-Bande. Sie sagten ja, sie ist ein Begriff, wie eine Marke. Im Laufe der Jahre wurden ihnen oft Dinge zugeschrieben, die gar nicht stimmten. Es gibt nicht so viele gesicherte Tatsachen. Das war für mich auch ein Grund, diese Geschichte zu recherchieren und auf meine Weise zu erzählen.
Bekannt geworden sind Sie durch mehrere Jugendbücher. „Gedisst“ spielt in einer ostdeutschen Plattenbausiedlung, „Braune Erde“ beschäftigt sich mit völkischen Siedlern auf dem Land: Wie kommt es, dass Sie jetzt einen Berlin-Krimi für Erwachsene schreiben?
Mein erster Roman „Mora!“, im Jahr 2000 erschienen, war kein Jugendbuch, aber er ist bei den Medien untergegangen, der Verlag Kowalke und Co. hielt sich auch nicht lange. Ich habe lange weitergeschrieben und die Manuskripte auch angeboten, aber dieser unglückliche Start schreckte vermutlich andere Verlage ab. Dann riet mir mein Literaturagent Uwe Held, ich solle es mal mit einem Jugendbuch versuchen, er glaubte, ich könne so etwas.
Und er hatte recht.
Ja, das war dann gleich erfolgreich, so kam ich auf die Jugendbuch-Schiene. Es wurden ja noch mehr als die beiden, die Sie genannt haben.
Ich erinnere mich noch an „Das Schicksal der Sterne“, in dem Sie zwei Fluchtgeschichten – aus Afghanistan und Schlesien – zusammenbringen. War es denn schwierig, nach vielen Jahren das Genre zu wechseln?
Nicht für mich, aber für die Verlage. Meine Agentur bekam schon zu hören: Das ist doch ein Jugendbuchautor, wieso schreibt der jetzt einen Krimi? Sie haben ja auch gleich danach gefragt. Aber für mich war es an der Zeit, wieder anders zu schreiben, differenzierter, härter.

Das aktuelle Buch: „Berlin Gangster“, Kriminalroman, Rotbuch-Verlag, Berlin 2023. 384 Seiten, 22 Euro
Was hat Sie vor allem interessiert? Werner Gladows Erfolg, sein Ende durch Hinrichtung in der DDR?
Beides natürlich, vor allem, wie kurz dieses Leben war. Er galt ja als ganz junger Bursche von 15 Jahren schon als „Kipperkönig“ auf dem Schwarzmarkt. Das kann man aus den Zusammenhängen mit dem Kriegsende verstehen, doch dass er so frech und so abgebrüht war in dem Alter, zugleich sehr intelligent, das hat mich sehr fasziniert. Auch sein Größenwahn macht ihn zu einer schillernden Figur für mich als Schriftsteller. Er sah sich als der deutsche Al Capone.
Haben Sie bei der Recherche etwas gefunden, was andere nicht wussten?
Darum ging es mir ab einem bestimmten Punkt nicht mehr. Die Eckdaten waren alle wichtig für mich, wann sind sie wo gewesen, wann haben sie wen wo überfallen. Daran habe ich mich gehalten, ich wollte dann frei erzählen und meinen fiktiven Charakteren auch ihre Rollen geben, meine Fantasie nutzen. In der Recherche ging es mir noch fast stärker um die Zeit.
Wie meinen Sie das?
Es war eher eine kulturelle Recherche. Ich habe mich mit der Zeit und mit Berlin beschäftigt, viele Filme gesehen, Musik gehört, Fotos angeschaut.
Haben Sie denn in der Stadt noch Spuren vom Nachkriegs-Berlin gefunden?
Jetzt nicht mehr, aber ich erinnere mich gut an die Zeit, als ich 1996 in die Stadt kam und in Prenzlauer Berg wohnte. Da war noch nicht alles durchsaniert, diese vibrierende Stimmung aus der Zeit nach dem Mauerfall war noch da. Alles ist möglich, ich kann alles werden – da gab es eine Parallele. Ich bin für den Roman die Wege der Bande abgelaufen, die haben sich ja kreuz und quer durch die Stadt bewegt. Ich war im Scheunenviertel und in der Schreinerstraße, wo er gewohnt hat, natürlich bei der Gasag, die sie überfallen haben, habe mir angeschaut, wo sie an der Bernauer Straße das Waffenarsenal der Ost-Berliner Polizei ausgehoben haben.
Konnten Sie beim Schreiben von Ihrer Jugendbuch-Erfahrung profitieren? Ich habe den Eindruck, dass Ihnen die Dialoge unter den jungen Leuten, dieses Knappe, Ruppige, sehr gut gelingen.
Das war mir nicht so bewusst, aber vielleicht hat mich der Werner Gladow überhaupt deshalb angesprochen, weil er kein 40-jähriger Verbrecher war, sondern vom Alter her recht nah an meinen anderen Protagonisten.
Hatten Sie beim Schreiben das Gefühl, Sie erzählen eine historische Geschichte oder sahen Sie auch Bezüge zur Gegenwart?
Die Aktualität läuft im Hintergrund immer mit, weil ich ja in der Gegenwart lebe. Zum Beispiel wurde damals, nach Kriegsende, unheimlich viel getanzt. Und jetzt nach Corona konnte man wieder diese Sehnsucht der Menschen beobachten, tanzen zu gehen, rauszugehen. Außerdem war dieser Gladow jemand, der bewusst mit den Medien gespielt hatte. Er war froh, wenn etwas über ihn in den Zeitungen stand, er hat sein Auftreten vor Gericht inszeniert. Heute würde man ihn einen Influencer nennen.
Beim Tanzen muss ich an Harald Jähners Buch „Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955“ denken.
Das gehört natürlich zu den Büchern, die ich gelesen habe, um die Zeit zu verstehen.
Welche Musik hat Sie beim Schreiben begleitet?
Ich höre keine Musik während des Schreibens, da brauche ich Ruhe. Aber für den Sound der Handlung und die Figuren waren mir viele Titel wichtig. Bully Buhlans „Räuberballade“ zum Beispiel war 1947 gerade aktuell. Benny Goodmans „Throwin' Stones At The Sun“ passte auch inhaltlich gut, da geht es zum Beispiel um die Entwertung des Geldes.



