Comic für Erwachsene

Ein Höhepunkt in der Berlin-Literatur: Nadia Buddes „Hundeblick“

Die Berliner Künstlerin schreibt: „Ich bin wie ein Hund. Meine Schnauze hat ihr Herz in Berlin.“ In ihrem neuen Buch betrachtet sie die Stadt von unten.

Ein Bild aus Nadia Buddes Buch „Hundeblick Berlin“
Ein Bild aus Nadia Buddes Buch „Hundeblick Berlin“Reprodukt Verlag/Nadia Budde

Über Berlin lässt sich viel erzählen. Vom Grün oder vom Müll, über Denkmäler oder Wohnqualität. Stadtplaner haben andere Eindrücke als Touristenführer, Autofahrerinnen und Fußgänger erleben die Stadt jeweils auf ihre Weise, die Wahrnehmungen von Kindern unterscheiden sich von denen Erwachsener. Nadia Budde schaut in ihrem neuen Buch, das Gästen wie Bewohnern der Stadt ans Herz gelegt sei, von unten auf Berlin.

Es beginnt mit einer Metamorphose – oder sollte man sagen: einer biologischen Aneignung? Eine weibliche Figur, naheliegenderweise die Autorin, ist zunächst durch eine Leine mit einem Hund verbunden, nähert sich diesem immer weiter an und landet schließlich selbst auf allen Vieren. Und das ursprüngliche Tier ist weg.

Bilder mit Witz und Visionen

„Hundeblick Berlin“ heißt das Buch, es braucht weniger Worte als die meisten aus dem Regal mit Berlin-Literatur, es verzichtet vollkommen auf Fotos, überzeugt aber durch eine Vielzahl und Vielfalt an Bildern. Es ist ein Comic, man kann es aber auch vornehmer eine Graphic Novel nennen. Budde, die berühmt ist für ihre Kinderbücher mit unniedlichen, aber durchaus liebenswerten Tierfiguren, mit Monstern oder Menschen mit markanten Merkmalen, drückt sich vorwiegend zeichnend und malend aus. Das neue Buch kann man größeren Kindern geben, doch sicher haben Erwachsene mehr Freude dran: am Witz, an der Satire, an der Bitterkeit und den Visionen.

Nadia Budde erzählt grafisch und mit Worten davon, wie die Stadt sich in der Gegenwart darstellt, und nimmt ein bisschen Historie dabei mit. Es gibt schlummernde Fliegerbomben aus dem Zweiten Weltkrieg, glänzende Stolpersteine, als Bernburger Mosaik verlegtes Pflaster, Weihnachtsbaumreste und jede Menge Müll. „Nebeneinander, untereinander, übereinander und miteinander liegen hier Schichten“, schreibt Budde in unregelmäßigen Großbuchstaben. „Die Stadt ist ein Haufen zusammenhangloses Zeug, dessen Ordnung das Durcheinander ist.“ Die 1967 in Berlin geborene und hier lebende Künstlerin widersetzt sich dem Chaos und gibt dem Ganzen Struktur.


„Hundeblick Berlin“
„Hundeblick Berlin“Reprodukt Verlag

Es ist eine subjektive Erzählung, die zeichnende Autorin ist als Hund in braunem Pullover, mit blondem halblangem Kopfhaar und Kippohren auf den meisten Seiten anwesend. „Ich bin wie ein Hund. Meine Schnauze hat ihr Herz in Berlin“, steht über ihrem Porträt. Diese zugewandte Haltung prägt das Buch. Als Ordnung benutzt Nadia Budde die Jahreszeiten und setzt Träume dazwischen. Einen Prolog und einen Epilog gibt es auch.

Aus den Kellerlöchern riecht die Vergangenheit

Das Titelwort „Hundeblick“ beschreibt die Wahrnehmungsart. Berlin wird vor allem olfaktorisch und visuell erlebt, zum Beispiel alltäglich: „Die Biotonne im Hinterhof erzählt die vergangene Woche und die Bierlache auf dem Gehweg neben den Scherben erinnert an letzte Nacht.“ Oder historisch: „Aus Kellerlöchern im Bürgersteig kriechen Gerüche von längst verfeuerten Kohlelieferungen, kriecht dunkler Schimmel und manchmal noch der Krieg.“ Das ist im Frühling.

Im Sommer schaut die Erzählerin auf das, was auf den Straßen bleibt, „verloren, vermisst, verschenkt“. Klamotten und Bücher, Gerümpel und Hausrat. Botschaften sind an Wände gekritzelt, gemalt, gesprüht oder als Zettel angeklebt. „Was bleibt sind Verwirrung, Verwechslung und Verwahrlosung.“ Im Herbst wechselt der Blick zwischen oben und unten. Hetzen etwa auf den Brücken Leute hin und her, liegen darunter „Menschen auf schmutzigen Matratzen und warten“.

Winterzeit im „Hundeblick Berlin“
Winterzeit im „Hundeblick Berlin“Reprodukt

Das so Aufgeschnappte ist für die Leser und Betrachterinnen in Bilder und Texte verwandelt, im typischen krummen Budde-Strich. Wer Augen hat, ob Hund, ob Mensch, Taube, Fuchs oder Bär, trägt große weiße Kreise mit einem schwarzen Punkt drin. Dessen Position gibt der jeweiligen Figur einen wesentlichen Teil ihres Ausdrucks, das ist frappierend. Apropos Bär: Zum Prolog ist das Berliner Stadtwappen abgebildet. Nadia Budde hat es ein wenig verfremdet. Der Bär drinnen schaut nach oben, zur Mauerkrone. Die ist mit fünf Hundeköpfen geschmückt. Später im Buch hat der Bär seinen Auftritt, als er aus seinem Winterschlaf geweckt wird – nicht durch das „Kriegsgeheul der Silvesternacht“ oder das Quietschen der Straßenbahn, sondern durch das Umschütten eines Glascontainers „in das leere Hinterteil eines BSR-Fahrzeugs“. Nadia Budde ist also auch aufmerksam für die akustischen Reize. Der Bär jedoch bekommt schlechte Laune, ihm reicht’s.

Was soll überhaupt heute noch ein Bär in Berlin? Er stand einmal für etwas Mächtiges. Nadia Budde macht den Hund zum neuen Wappentier. Mehr als 125.000 Hunde sind hier  steuerlich erfasst. Die Dunkelziffer jault an Häuserecken und in U-Bahn-Tunneln. Der Hund, der seine Nase in jeden Dreck steckt, der treu ist und leicht zu begeistern, passt gut zu unserer schönen schrecklichen Stadt.

Nadia Budde: Hundeblick Berlin. Reprodukt Verlag, Berlin 2022. 112 Seiten, 18 Euro