Bei Regatten wird der Drachen als Drei-Mann-Boot gesegelt, steht im Wikipedia-Artikel. Den hat die Autorin dieser Zeilen aufgerufen, um zu schauen, ob es überhaupt Boote gibt, die so heißen. „Die Alleinseglerin“, die Titelheldin und Ich-Erzählerin eines Romans von Christine Wolter, hat sich mit dem Drachen ihres Vaters also wirklich eine schwere Bürde aufgeladen. Aber schön war das Boot doch: „Lang und schmal lag es im Wasser, es sah leicht aus und schnell mit seinem weit vorschwingenden Bug und dem hohen Mast.“
Es sind nicht die nautischen Details, die das Buch so reizvoll machen. Was man vom Segeln wissen muss, erfährt man beim Lesen nebenher. Wie viel Pflege so ein Boot braucht, einen Platz im Winter, handwerkliches Geschick. Und wie teuer das alles ist!
Der Roman erzählt in ruhigem Ton mit Gedankenpausen von den Möglichkeiten einer Frau, unabhängig zu sein, sowohl im Wissenschaftsbetrieb als auch unter Bootsleuten. Das kann man losgelöst von Handlungsort und -zeit verstehen. Das Buch ist zwar vor 40 Jahren, 1982, erstmals erschienen, im Aufbau-Verlag in der DDR, wenig später auch in Lizenz in der BRD, doch es wirkt jetzt in der unveränderten Neuausgabe im Hamburger Ecco-Verlag nicht alt, nicht einmal nur zeitlos, sondern an vielen Stellen geradezu aktuell.
Der Vater, ein Erbauer der Stalinallee
Ein Grund dafür lässt sich in der Perspektive finden: Die Erzählerin Almut, das wird durch die Rahmung deutlich, befindet sich in Italien. Sie denkt an ihren Vater, der ihre Mutter verließ, als Almut noch Kind war. Als Architekt aus dem Stalinallee-Kollektiv genoss er frühen Ruhm (wie auch der Vater der Autorin), als er später seine Rolle verloren hat, nannte man ihn im Dorf am See nahe Berlin noch anerkennend Professor und Käptn. Er hinterließ Almut das Boot als Erbe. „Hättest du nicht mehr sein können in meinem Leben als der Käptn?“, schreibend wird sie sich einer Leerstelle bewusst.
Die Erzählerin blickt auf sich in Lebensverhältnissen, die nicht mehr ihre sind. „Die Bilder kommen, ich muß sie nicht rufen.“ Das Boot und ihr Mut, ihr Trotz, ihre Niederlagen und Siege. Sie erlebt auf dem See Momente der Freiheit außerhalb von Familie und Beruf. Nebenbei erzählt sie DDR-Alltag mit, die tagelange Suche nach bestimmten Materialien, einer Abdeckplane etwa oder Latex-Farbe. Eine Freundin, die ihr öfter den Sohn abnahm, weil sie ja die freie Zeit fürs Boot brauchte, sagte eines Tages mit solidarischer Geste, „Wir alleinstehenden Mütter!“, was die Erzählerin beschämte: „Ich war nicht stolz auf meinen Stand, hatte ihn nicht gewählt wie sie.“
In der italienischen Gegenwart versucht die Autorin den Stoff zu greifen, der an dem Boot klebt: „Etwas von jenen Jahren selbst.“ Und so entwickelt sich der Roman einer Frau in einer Gesellschaft, die zwar Gleichberechtigung behauptete, aber dennoch männlich dominiert war: „Hilfe fand ich selten, oft aber Leute, die mit fachmännischem Ton und nicht ohne Vergnügen deprimierende Prognosen stellten.“ Als sie in ihrer literaturwissenschaftlichen Arbeit „Konturen des neuen Menschen“ in historischen Frauengestalten findet, warnt ihr Vorgesetzter sie „vor der modischen Emanzen-Attitüde“.

Regine Sylvester schrieb das Drehbuch für den Film
Christine Wolter ist Jahrgang 1939, also etwa gleich alt wie ihre prominenteren Kolleginnen Helga Schütz und Helga Schubert, war zunächst Lektorin und Italienisch-Übersetzerin im Aufbau-Verlag, bevor sie selbst Bücher schrieb. Durch die – im Zuge einer Heirat erlaubte – Ausreise 1978 nach Italien hat man sie in der DDR wenig als Person wahrgenommen, erschienen ihre Bücher ohne Aufsehen. „Die Alleinseglerin“ erfuhr allerdings Aufmerksamkeit mit der Verfilmung durch Herrmann Zschoche 1987, das Drehbuch schrieb die Journalistin Regine Sylvester nach dem Roman.
Die Wiederauflage des Buches zeigt, dass es literarisch Bestand hat. Wolters Fragen an das Leben der Almut sind heute noch akut. „Über das Boot habe ich so viel geseufzt und geklagt, daß es zum Lachen ist“, sagt die Erzählerin. „Aber ich habe wirklich geglaubt, das Boot mache mich zum Sklaven, und dabei war ich es selbst.“ Und so kann der Drachen auch als etwas anderes gelesen werden, als eine Pflicht, von der man sich manchmal auch freimachen kann, wenn man sich der Zwänge bewusst wird. Es ist eine Frage der Abwägung.
Christine Wolter: Die Alleinseglerin. Roman. Ecco, Hamburg 2022. 208 Seiten, 22 Euro



