Die russisch-tatarische Autorin Gusel Jachina ist eine Spezialistin für die verborgenen Stellen der sowjetischen Geschichte. Das zeigt auch ihr neuester Roman „Wo vielleicht das Leben wartet“, der von Waisenkindern erzählt, die im Jahr 1923 per Zug von Kasan nach Samarkand gebracht werden sollen. Am Montag liest sie in Berlin daraus. Wir fragen Gusel Jachina, die perfekt Deutsch spricht: Wie ergeht es Ihnen, wenn Sie jetzt als russische Autorin im Ausland unterwegs sind?
Gusel Jachina: Ich habe mich auch gefragt, ob das jetzt überhaupt passend ist. Alles, was nach dem 24. Februar geschehen ist, sehe ich als eine Katastrophe an, eine Katastrophe für 200 Millionen Menschen – so viele leben in den drei Ländern Russland, Belarus und der Ukraine. Diese 200 Millionen Leben haben sich unwiderruflich verändert.
Man könnte sich also kaum eine schlimmere Zeit für die Lesereise mit einem russischen Roman vorstellen. Aber gleichzeitig, so wie ich das sehe und verstehe, könnte es kaum eine bessere Zeit geben, um in ein Gespräch zu kommen. Denn heutzutage hört man nicht viele ganz normale Stimmen aus Russland. Emigranten schon, aber Gäste, die kommen und zurückreisen, sind selten. Es ist aber wichtig, nicht nur die Stimmen von Politikern und Propagandisten zu hören oder von Waffen.
Ich bin in etwa einem Dutzend Städten, praktisch jeden Tag in einer anderen. Dann fahre ich weiter nach Innsbruck, also Österreich, anschließend geht es nach Dänemark. Bei jeder Lesung spreche ich mit dem Publikum, über den Roman natürlich, doch schnell finden sich Parallelen zur heutigen Zeit.
Für mich ist ein Roman über die Sowjetzeit ein Werkzeug, die Gegenwart zu verstehen. Ich befasse mich in meinen Büchern mit der frühen sowjetischen Geschichte. Denn ich meine, dass damals, in den 20er-, 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts die Knoten gebunden wurden, die wir heute zu entwirren versuchen.
Die sowjetische Geschichte war mit dem Zerfall der Sowjetunion nicht zu Ende. Wir leben nicht formell, aber im Wesentlichen in dem gleichen Staat. Das, was wir glaubten begraben zu haben, wird heute ganz schnell wieder lebendig. Es ist unsere nicht gemachte Hausaufgabe: die Bewältigung der sowjetischen Geschichte. Wir brauchen sie zur Anamnese des russischen Staates. Ohne diesen Schlüssel geht es nicht weiter.
Lesung und Gespräch 31.10., 19.30 Uhr, Buchhandlung Chaiselongue, Pankow, Dietzgenstr. 68


