Laut dem kalifornischen Literaturhistoriker Mark McGurl („The Program Era“) umfasst der Kodex der Creative-Writing-Schulen drei einfache Maximen. Die erste und vermutlich einflussreichste Regel ist „Show, don’t tell“. Statt herumzuplaudern, wird einem geraten, solle man andeuten, unterstellen, mitmeinen – zeigen. „Schreib, was du kennst“, lautet die zweite, und die dritte und jüngste: „Finde deine eigene Stimme“. Selbstverständlich sind solche Kunstregeln mit Vorsicht zu genießen, zwanglos angewandt aber lässt sich mit ihnen gerade in amerikanische Gegenwartsliteratur einiges Interessante hinein- und wieder aus ihr herauslesen.
An Nell Zinks neuem Roman „Avalon“ zum Beispiel verblüfft, wie er alle drei Vorgaben einerseits mit Bravour, andererseits aber so gar nicht erfüllen mag. Schon bei der Figurenzeichnung gelingen ihm jede Menge Glanzstücke in der Kunst des Zeigens. Beschreibt sich die Erzählerin Bran in einem ausgedehnten Audrey-Hepburn-Vergleich noch als „verletzlich und klein“, erfährt man Stunden später, sie sei eher groß und weit schöner als normschön (Enthüllung).
Avalon: Ein so kurvenreicher wie flüssiger Plot
Brans bester Freund Jay trägt seit Klasse sieben Flamenco-Schuhe, in denen er weder tanzen noch laufen kann (Seitenhieb). Seiner praktisch blinden Tanzlehrerin Loretta hingegen gelingt noch immer, was der Flamenco verlangt: „im Stehen verachtenswert auszusehen und den Respekt allein durchs Tanzen einzufordern“ (Kondensat). Und um die zwielichtigen Hendersons vors geistige Auge der Leserin oder des Lesers zu beamen, genügt der Erzählerin ein einziger Satz: „Ich bin sicher, dass in ihren Gedanken kein richtiger Mann jemals nackt war“ (Epiphanie).
Doch der Roman ruht sich auf solch kristallinen Momenten alleine nicht aus. Brans Erzählung sprudelt munter von Episode zu Episode und vermengt sich mit der präpotenten Plapperwut von Peter, der Zitat an Zitat reiht, um seinen duldsamen Freunden die Welt vorzudeuteln. Dazwischen entsteht außerdem ein so kurvenreicher wie flüssiger Plot, und so bleibt kein Zweifel, dass es sich bei „Avalon“ um ein handwerklich unangreifbares Stück Literatur handelt.
Zum Plot nur so viel: Nachdem ihre Mutter sie in Richtung buddhistisches New-Age-Kloster verlassen hat, fristet Bran ihr Dasein als Haus- und Gartensklavin der Hendersons, die neben ihrem fragwürdigen Baumzucht-Business am liebsten Fusel trinken oder gewaltbereit Motorrad fahren. Nach einigen Dämpfern gelingt es Bran, den High-School-Abschluss in der Tasche, vor den Hendersons auszureißen, und nach einem zähen bürgerlichen Intermezzo bei Mark und Susan macht sie sich endlich im maroden Auto auf den Weg in das, was vom kalifornischen „Westen“ noch übrig ist. Was sonst noch passiert, muss man selber herausfinden.
Zink selbst lebt längst nicht mehr in den USA, sondern in Brandenburg. Auch ihr Näheverhältnis zur Gefühls- und Gedankenwelt ihrer Figuren, Regel zwei, erweist sich somit als kompliziert, schließlich ist nicht davon auszugehen, dass die 59-jährige Autorin Brans social-media-getränkte High-School-Welt aus erster Hand kennt, also schreibt, was sie kennt. Umso verblüffender, wie lebendig das alles wirkt, wie gut sie etwa den Tonfall strebsamer Unbeholfenheit trifft.
Ein „Touristenfallen-Kaff“ in Kalifornien
Ähnlich ambivalent verhält es sich mit der dritten Schreibregel, denn Bran erobert sich ihre relative Autonomie eben nicht durch Freisetzung ihres innersten Innern, sondern über den (wenn auch stockenden) Ausbruch ins Offene, durch Expansion und Distanzierung vom Selbst. Raffiniert nimmt Zink diese Entwicklung vorweg, wenn sie ihre Hauptfigur gleich zu Beginn auf ihre frühen Lektüren reagieren lässt: „Ich identifizierte mich mit der Welt. Die Hauptfigur in all diesen Büchern ist die in Not geratene Welt, und die war ich.“
Avalon heißt „Ort mit Äpfeln“, der mythische Bezirk, in dem König Artus seine Wunden heilt. Auch das „Touristenfallen-Kaff“ auf der kalifornischen Insel Santa Catalina, an das Branwen – so Brans keltischer Taufname – eine ihrer ganz wenigen Muttererinnerungen knüpft, heißt so. Für Tristan und Isolde reicht es am Ende – zum Glück! – nicht ganz, und doch ist unverkennbar, wie der Roman mit Peter und Brans fiktionaler Fernbeziehung auch eine hintersinnige Variation auf das Thema enthaltsamer Ritterminne komponiert. Der ritterliche Hieb, so derb wie galant, ohne tödlich zu sein, ist ohnehin die stilistische Elementarhandlung der Autorin, die mit ihren Figuren alles andere als zimperlich umgeht. Implizit fordert sie damit eine vierte Creative-Writing-Regel heraus, die sich auch an deutschen Schreibschulen einiger Beliebtheit erfreut: „Verrate deine Figuren nicht!“
Auf individueller Ebene ist Brans Entwicklungsroman die alles zusammenhaltende Klammer, daneben aber geht es in diesem vielschichtigen Buch um einiges mehr: zerrüttete Familienverhältnisse, bürgerliche Verlogenheit, Alltagsfaschismus – und wieder einmal die Feindynamik sozialer Anerkennungskämpfe, die in Kalifornien noch einmal ganz anderen Wettbewerbsverzerrungen ausgesetzt sind. Aus Sicht der Creative-Writing-Gepflogenheiten ließe sich dieses Mehr etwa so beschreiben: In einem handwerklich perfekten Roman, der sich ambivalent gegenüber drei kanonischen Regeln der Well-made-Literatur positioniert und eine vierte Regel deutlich unterläuft, indem er kräftig gegen sein Figurenpersonal austeilt, wird letztlich eine fünfte verhandelt, die alle vorigen zu unterwerfen imstande ist: „Mach deine Kunst so, dass sie der sozialen Gerechtigkeit dient!“




