Wind säuselt, Vögel tschilpen, Schneekristalle knistern. Man betritt einen Raum, ungefähr so groß wie die Ladefläche eines Lkws, dessen Boden als Leinwand fungiert. Dunkle grafische Strukturen bewegen sich vor einem hellen Hintergrund, dünn auslaufende Verästelungen, deren Spitzen miteinander zu kommunizieren scheinen. Es könnten Nervenzellen sein, vielleicht auch Haare oder Tentakeln von Polypen – aber es ist etwas viel Vertrauteres: ein noch unbelaubter Wald im Frühjahr, gesehen aus der Perspektive von jemandem, der auf dem Boden liegt und in den Himmel schaut. Der Wind bewegt die Zweige, schiebt sie aber nicht etwa in eine Richtung, sondern stößt sie nur sanft an, scheinbar einzeln, sodass sie, sich biegend und zurückschnellend, zu tanzen scheinen. Jeder für sich und doch alle zusammen. Ein meditatives Bild, dessen Sogwirkung noch verstärkt wird durch eine langsame Bewegung der Kamera, die bei der Aufnahme sanft auf einem Dolly durch den Wald gefahren wurde.
Es vermittelt sich ein friedliches Gefühl, das an eigene Erfahrungen anknüpft. Ja, stimmt, man sollte sich viel öfter auf Waldboden ausstrecken, die Erde im Rücken, den Himmel im Gesicht. Umso schöner, wenn man dabei von Vögeln in den Schlaf gesungen wird. Vielleicht sind es diese Momente des reinen Seins, die mit dem ukrainischen Prosit „Bud’mo!“ gefeiert werden, man könnte es mit „Lass uns sein!“ übersetzen.
Fruchtbarer Boden in Galiziens Wäldern
Es handelt sich um Bäume aus zwei besonderen Wäldern in Galizien, die die Berliner Künstlerin Nadia Kaabi-Linke und ihr Lebens- und Arbeitspartner Timo Kaabi-Linke für das Kunstwerk „Bud’mo“ ausgewählt und im April gefilmt haben: Der Partisanenwald, Chronyi Lis, befindet sich in der Nähe von Iwano-Frankiwsk. Hier versteckten sich ukrainische Partisanen nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Sowjetarmee; unweit des Schwarzen Walds liegt das Tal Demjaniw Las, in dem der sowjetische Geheimdienst NKDW 1939 bis 1941 mehr als fünfhundert Menschen exekutierte und verscharrte. Der zweite Wald heißt Bronetskyi Lis und liegt in der Nähe von Drohobytsch. Hier erschossen und verscharrten die Wehrmacht und die SS 1941 bis 1943 mehr als 30.000 Juden, fast die Hälfte der Drohobytscher Bevölkerung. Wer diese Bäume sieht, liegt auf den Bloodlands, als welche der amerikanische Historiker Timothy Snyder die Gebiete bezeichnet, über die die mörderischen Diktaturen Stalins und Hitlers hin- und herwalzten.

Für Nadia Kaabi-Linke, die Tochter einer Ukrainerin und eines Tunesiers, die in Tunis, Kiew und Dubai aufwuchs, in Tunis an der School of Fine Arts und in Paris an der Sorbonne studierte, dort in Kunstphilosophie promovierte und jetzt schon einige Jahre in Berlin und Kiew lebt, könnte der Blick in den Himmel auch der letzte Blick von jemandem sein, der erschossen wurde und stirbt. Sie führt uns durch die Einzelausstellung im Hamburger Bahnhof, dessen neuen Ko-Direktor Sam Bardaouil eine lange Zusammenarbeit mit Kaabi-Linke verbindet. Sie beißt sich nicht nur einmal auf die Zunge, weil ihre Werke doch zuerst aus sich selbst heraus sprechen sollen – und sie zugleich so viel Inspirierendes zu erzählen hat.
Die kraftstrotzenden, tanzenden Bäume, woher nehmen sie ihre Energie, was nährt sie? Es ist das Leben, das über diesen Massengräbern weitergeht. Und die Künstlerin hat ja recht, wenn sie uns daran erinnert, dass auch auf dem Rücken liegende Babys in den Himmel sehen. Man erinnert sich an den unsteten, aber weisen Blick der eigenen Kinder, wenn sie denn einmal zufrieden und wach dalagen. Könnte schon sein, dass sie verschlüsselte, vorsprachliche Botschaften aus dem Tanz der Zweige herauslasen und mit ins Leben nahmen, Botschaften von den Ahnen.
Leben, Tod, Schuld, Schmerz laufen in den konzeptuellen Kunstwerken Kaabi-Linkes zusammen. Mögen sie auf den ersten Blick einfach und pur erscheinen, mit Material, mit Schatten, Haaren, Spuren, Evidenzen und Dimensionen spielen, fächert sich eine Welt auf, wenn man gedanklich eindringt. Nichts ist dem Zufall überlassen, alles trägt Bedeutung: das Material, die Verarbeitung und Ausführung. Es stecken Erfahrungen aus konkreten politischen Zusammenhängen darin, die Kaabi-Linke am eigenen Leib und aus der Biografie ihrer Familie mitgenommen hat, komplexe und individuelle Erfahrungen, die sie auf ihre Struktur herunterbricht. Aber ohne ihnen etwas zu nehmen, sondern so, dass der Betrachter mit seinen eigenen Inspirationen und Interpretationen dazwischenkommt.

Jetzt schiebt sich die Gegenwart, der russische Krieg in den Vordergrund. Den Mittelpunkt der Ausstellung, die Werke aus fünfzehn Jahren vereint, bildet die Arbeit „Blindstrom for Kazimir“. Sie besteht aus 15 Flächen und ist auf den ersten Blick so interpretationsoffen wie das suprematistische Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch. Auf ihn spielt der Titel an. Malewitsch ist in Kiew geboren – also mitnichten ein russischer oder sowjetischer Avantgardist, als der er herumgereicht wird.
Schwarze Flächen hängen an den Wänden, daneben finden sich helle Rechtecke, wie sie zurückbleiben, wenn man Bilder abhängt. Es geht um Werke, die 1937 bis 1939 von stalinistischen Kulturzensoren in der ganzen ukrainischen Sowjetrepublik in einer Spezialsammlung („Spetsfond“) zusammengetragen wurden, um sie zu vernichten: Werke von abtrünnigen Künstlern, mit unliebsam gewordenen Protagonisten oder kritischen Inhalten. Viele Künstler starben bei den Stalin’schen „Säuberungen“, während ihre Werke, die in Kiew gelagert wurden, in die räuberischen Hände der deutschen Wehrmacht fielen. Nach dem Krieg gelangten einige nach Moskau und von dort zurück ins Kiewer Nationalmuseum, wo sie in den letzten Jahren der Vergessenheit entrissen wurden. Die Leinwände tragen gewaltvolle Spuren der Reisen, aber auch der Misshandlung, wenn etwa Porträtierte abgewaschen oder abgekratzt wurden – jedes Bild erzählt eine eigene Geschichte, die manchmal tragischer und bedeutender sein kann als das, was eigentlich auf ihm festgehalten werden sollte.



