„Schokomasse“, steht auf einem silbernen Schild an der Fassade des Fabrikgebäudes in Berlin-Tempelhof. Daneben prangt: „Fett“. Rohre ragen aus der Wand. Bis 2003 produzierte die Firma Sarotti hier täglich bis zu 300.000 Tafeln Schokolade. Heute befinden sich in der ehemaligen Schokoladenfabrik neben Autowerkstätten auch Ateliers von Künstlerinnen und Künstlern sowie der Kunstverein soft power.
Derzeit ist hier die Schau „Plural Perspectives“ zu sehen. Die Ausstellung zeigt die Arbeiten von fünf Künstlerinnen und Künstlern, die neue Perspektiven auf fünf Orte Berlins ermöglichen: Alice Creischer (Mall of Berlin), Aykan Safoğlu (Siegessäule), Edgar Calel (Sarottifabrik), Jota Mombaça (Haus der Berliner Konferenz) und Mukenge/Schellhammer (Humboldt-Forum).
Als die vier Frauen Linnéa Bake, Eva Herrmann, Melissa Lücking und Donna Volta Newmen im Oktober 2020 mit ihrem Kunstverein in die ehemalige Sarottifabrik zogen, erzählt Bake, mussten sie als Erstes die Reste von Schokolade vom Boden kratzen. Ihre erste Schau bezog sich dann direkt auf die Geschichte des Gebäudes. Der politische Anspruch leitet seitdem das Programm. Die Kunstverein-Gründerinnen wollen wissen, welches Potenzial in der „soft power“, der „weichen Macht“ liegt, die Kunst auf Politik und Wirtschaft ausüben kann.
Im Zentrum des Raums hängen zwei weiße, gemusterte Baumwollanzüge von der Decke. Bei näherer Betrachtung stellen sich die braunfarbigen Elemente als Kakaofrüchte heraus, die der Künstler Edgar Calel, wie Kurator Dereck Marouço Sant’Anna da Silva erklärt, nicht nur mit Graphit und Acryl, sondern auch mit Kakao auf den Stoff gemalt hat. Mit der Gegenüberstellung der beiden Kleidungsstücke, von denen eines handgenäht ist und eines maschinell, verweist Calel in seiner Arbeit „In Cacao Che’ (I am Cacao Tree)“ (2023) auf die unterschiedlichen Weisen, auf die Kakao angebaut und konsumiert wird: Einst war die Bohne Teil von Maya-Zeremonien, heute wird sie tonnenweise um die Welt geschippert, um in jedem Supermarktregal zu stehen. Calels Arbeit ist die einzige der fünf, die an dem Ort steht, auf den sie sich auch bezieht: die Sarottifabrik.
Gefühl des Eingekesseltseins in der bösen Vorahnung
Eindrücklich ist die Erfahrung der Installation „The steady rock remembering how it is to crumble“ (2023), die sich auf den Ort bezieht, an dem in den Jahren 1884/1885 die Berliner Konferenz stattfand, an der Wilhelmstraße 92. Jota Mombaça hat eine Fensterseite im Ausstellungsraum mit orangefarbener Folie abgeklebt, sodass der Raum in einem erdigen Licht erscheint. Der Farbton suggeriert eine Stimmung wie vor einem heftigen Sommergewitter. Der Bewegungsraum in der Installation ist eingeschränkt, denn um die Besucherinnen und Besucher herum liegt trockene, rissige Erde auf dem Boden. Die Soundinstallation „Let me rest in the deep“, die im Loop läuft, verstärkt das Gefühl des Eingekesseltseins in der bösen Vorahnung.
Für Deutschland war die „Berliner Konferenz“, auch „Kongo-Konferenz“ genannt, Grundlage für die Kolonialisierung Afrikas. An der Wilhelmstraße erinnert heute nur eine bescheidene Metalltafel an das historische Ereignis. Während der Ausstellungslaufzeit von „Plural Perspectives“ wird die postkoloniale Erinnerungskultur im öffentlichen Raum aber sichtbarer. Auf Plakaten sind die Werke in der unmittelbaren Umgebung des jeweiligen Ortes auf der Straße präsent.
Poetisch ist die Auseinandersetzung Aykan Safoğlus mit der Siegessäule. Anlässlich preußischer militärischer Siege errichtet und später von den Nationalsozialisten im Rahmen ihrer Pläne zur Neugestaltung der Stadt versetzt, fand zu Füßen des Denkmals an seinem heutigen Standort am Tiergarten die Abschlusskundgebung zur Loveparade statt.
Die Arbeiten stellen vorherrschende Geschichtsbilder infrage
Der Künstler zeigt Fotografien von Detailansichten des Engels – das wehende Kleid im Wind, den Lorbeerkranz –, die er im Siebdruckverfahren auf die fragile Oberfläche einer Hitzetransferfolie gedruckt hat. Diese Bilder sind kurz über dem Boden angebracht, geschützt von Glas, weil die Folie so zerbrechlich ist. Bewegt man sich um die Bilder herum, entstehen Lichtreflexionen auf dem Material, wie bei Hologrammen, die man von Geldscheinen oder Pässen kennt: um das Original von der Kopie zu unterscheiden; um das Recht auf Mobilität oder Staatsbürgerschaft zu gewähren. Mit seiner Arbeit „Angelus Novus (Fragmente im Sturm)“ (2023) thematisiert Safoğlu so die Brüchigkeit des Jetzt und konterkariert die phallische Monumentalität der Siegessäule mit der Fragilität der bodennah angebrachten Folie.



