Kunst

Kunst in Berlin: Was Sie 2023 unbedingt sehen müssen

Das Berliner Ausstellungsprogramm hat 2023 einiges zu bieten. Wir haben vorab einige Highlights für Sie zusammengestellt. Was man nicht verpassen sollte.

Nan Goldin, Bed, Paris/New York, 1992–2009, 2019
Nan Goldin, Bed, Paris/New York, 1992–2009, 2019Nan Goldin/Marian Goodman Gallery

Nach dem Kunstjahr 2022 stehen in diesem Jahr weder die Kunst-Biennale in Venedig noch eine Documenta in Kassel vor der Tür. Dafür fallen bereits jetzt, besonders in Berlin und Potsdam, einige andere Ausstellungen ins Auge, die sich in den nächsten zwölf Monaten lohnen. Darunter ist etwa die von vielen heiß antizipierte Einzelausstellung von Gerhard Richter in der Neuen Nationalgalerie, eine in diesem Frühjahr nach Berlin kommende Wanderausstellung des amerikanischen Künstlers Ulysses Jenkins, die Neueröffnung des Hauses der Kulturen der Welt unter der Leitung des Intendanten Bonaventure Soh Bejeng Ndikung sowie zwei exquisite Ausstellungen über den radikalen Modernisten Edvard Munch. Hier können Sie die Vorschau der Kunstspezialisten der Berliner Zeitung für die diesjährigen Museen und Galerien in Berlin lesen. Es warten Höhepunkte mit leidenschaftlicher, gesellschaftskritischer und nachdenklich machender Kunst.


Nan Goldin, Thora at my vanity, Brooklyn, NY, 2021
Nan Goldin, Thora at my vanity, Brooklyn, NY, 2021Nan Goldin/Marian Goodman Gallery

Die Fotografin Nan Goldin in der Akademie der Künste

Nan Goldin ist spätestens seit Laura Poitras Dokfilm „All the Beauty and the Bloodshed“ den meisten ein Begriff. Der Film handelt von der unermüdlichen Kampagne, mit der die amerikanische Fotografin die Sackler-Familie endlich für die amerikanische Opioid-Epidemie zur Verantwortung zu ziehen versucht. Es ist eine Kampagne, die international Anklang fand und letztlich dazu führte, dass einige der größten Kulturinstitutionen der Welt wie das MoMA oder das Guggenheim Museum den Namen der berüchtigten Kunstspenderfamilie aus ihren Gebäuden entfernen ließen.

Doch Nan Goldin steht für mehr. Ihre Fotografien sind Bilder ungeschminkter Ästhetik, ohne Filter. Berühmt wurde die Fotografin durch Fotos aus ihrem Leben in Bohème-Enklaven der 80er- und 90er-Jahre. Goldins Markenzeichen ist ihr saturierter Schnappschuss-Stil, dem weder kompositorische Konvention noch journalistische Distanz als Maßstab galten. So dokumentierte Goldin eine Welt voll glamouröser Sexiness, die in den Augen so mancher Betrachterin selbst heute noch furchterregend wirken mag. Etwa das Selbstporträt „Nan one month after being battered“. Goldin blickt direkt in die Kamera: im Weiß ihres geschwollenen Auges sammelt sich tiefrotes Blut, das auf unheimliche Weise den Farbton ihres Lippenstifts spiegelt. Dunkle blaue Flecken überziehen ihre Haut. Das Foto ist das Abbild eines Traumas; fotografisches Überbleibsel der destruktiven Beziehung Goldins zu ihrem Ex und ein Kernbestandteils ihrer berühmten Diashow „The Ballad of Sexual Dependency“.

Letztes Jahr erhielt Goldin den Käthe-Kollwitz-Preis der Berliner Akademie der Künste. Die Jury würdigte damit ihr Lebenswerk und verschaffte auch ihren queeren Lebenswelten Sichtbarkeit. Nan Goldin habe sich, heißt es seitens der Akademie, „für Akzeptanz und zunehmende Anerkennung der LGBTQ*-Szene eingesetzt“. Die Preisverleihung wird von einer Einzelausstellung begleitet, die ab 19. Januar bis Anfang März dieses Jahres am Akademie-Standort im Hanseatenweg zu sehen sein wird, mit Goldins Fotos aus den frühen Bostoner Jahren, aus New York und Berlin und aktuelleren, großformatigen Landschaftsfotografien. Hanno Hauenstein

Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 19. Januar–3. März


Edvard Munch, Rot und Weiß, 1899–19
Edvard Munch, Rot und Weiß, 1899–19MUNCH, Oslo/Halvor Bjørngård

Der„ Zauberer des Nordens “ Edvard Munch in der Berlinischen Galerie

Edvard Munchs radikale Modernität war um 1900 für die Kunstwelt seines Landes und auch in Deutschland eine Zumutung. Der norwegische Symbolist (1863–1944) hatte großen Einfluss  auf die Malerszenen. Davon erzählt die Ausstellung „Edvard Munch. Zauber des Nordens“, eine Kooperation mit dem Museum Munch in Oslo. Und es ist auch die Geschichte der Liaison des Malers mit der Stadt Berlin. Hier wirkte die Begeisterung für alles Nordische wie ein Fieber. Sogar der konservative „Verein Berliner Künstler“ ließ sich mitreißen und lud 1892 den noch unbekannten jungen Maler zu einer Einzelschau ein. Das Publikum war geschockt von Munchs Farbgewalt. Zeitungskritiker schrieben, diese Malerei sei „roh und skizzenhaft“. Wegen all der Polarisierung wurde die Ausstellung dann geschlossen. Aber das verschaffte Munch unerwarteten Ruhm. Er zog an die Spree, arbeitete hier von 1892 bis 1907 immer wieder, bevor er sich ab 1909 ganz in Norwegen niederließ.

Die „Affäre Munch“ gilt als Beginn der Moderne in Berlin, damals einem der wichtigsten Ausstellungsorte in Europa. Hier gab es progressive Intellektuelle und Sammlerinnen, Mäzene, Galeristen, Museumsleute. Und hier erlernte Munch in den führenden Berliner Druckereien druckgrafische Techniken. Erstmals stellte er in Berlin seine zusammenhängenden Bilderserien – sein Thema bis zum Tod – vor. Die Secession zeigte als erster Kunstort seinen „Lebensfries“.

Auch die bis dahin gängige Vorstellung vom „Zauber des Nordens“ (Stefan Zweig) erfuhr einen Wandel. Statt mit romantischen oder naturalistischen Fjord-Landschaften verband man damit nun Munchs psychisch verdichtete Bildwelten. Die Nazis vereinnahmten den Maler zunächst als „großen nordischen Künstler“, bald aber war der Expressionist verfemt wie so viele andere. Die Berlinische Galerie zeigt rund 80 Werke Munchs, ergänzt mit den seiner Zeitgenossen und Gefährten, die um 1900 die Vorstellung vom Norden und die moderne Kunstszene an der Spree prägten, wie etwa der Maler Walter Leistikow. Ingeborg Ruthe

Berlinische Galerie, Alte Jakobstr. 124-128,  15. September  2023 bis 22. Januar 2024. Und in Potsdam: Munchs „Lebenslandschaften“ , Museum Barberini, ab 18. November  2023


Bonaventure Soh Bejeng Ndikung
Bonaventure Soh Bejeng NdikungAlexander Steffens

Bonaventure Ndikung im Haus der Kulturen der Welt

Es gibt in der Geschichte der größeren deutschen Kulturinstitutionen wohl kaum einen Kurator, der sich bereits vor Amtsantritt mit mehrfachen, gezielten Versuchen auseinandersetzen musste, das eigene Image zu diffamieren oder gar seine Ernennung rückgängig zu machen. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Savvy-Contemporary-Gründer, 2015 ins Kuratorenteam der Documenta 14 berufen und seit diesem Jahr neuer Intendant des Berliner Hauses der Kulturen der Welt (HKW), ist so ein Kurator. Über die letzten zwei Jahre hinweg wurde Ndikung von Springer-Medien wie Welt und Bild in vorhersehbarer Regelmäßigkeit vorgeworfen, der Israel-Boykott-Bewegung BDS nahezustehen. Dass Ndikung dies mehrfach explizit dementierte, half ihm im deutschen Medienkosmos wenig weiter. Jüngst titelte selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem bösartig wirkenden Beitrag über Ndikung mit den Worten „Für immer Documenta?“ (anspielend auf den Antisemitismus-Skandal der Documenta 15 von letztem Sommer).

Ob die Unfähigkeit, den ursprünglich aus Kamerun stammenden Kurator in einer öffentlichen Leitungsfunktion in Deutschland zu akzeptieren, mit unter- oder auch oberschwelligem Rassismus zu tun hat? Einiges spricht dafür. Eigentlich interessanter als die Angriffe auf Ndikungs Person und das HKW ist letztlich aber das Programm, das er in diesem Sommer – sobald die umfängliche Renovierung des Hauses abgeschlossen ist – umzusetzen plant. 

Die große HKW-Eröffnung wird Anfang Juni stattfinden. Erste inhaltliche Schwerpunkte ließ Ndikung bereits 2021, im Interview mit der Berliner Zeitung, durchblicken: „Das HKW hat die Aufgabe, Kultur und Naturwissenschaften aus aller Welt zu reflektieren“, sagte er. Und: „Es geht nicht nur um Kolonialgeschichte. In Berlin leben Menschen aus 190 Nationen, teilweise seit zwei, drei Generationen. Menschen, deren Eltern oder Großeltern aus Polen kommen, der Türkei, Marokko, Portugal oder Italien, als Gastarbeiter, um dieses Land nach dem Krieg wiederaufzubauen. Die sind Teil der Gesellschaft, bezahlen hier Steuern. Es ist wichtig, dass sie ihren Platz im Haus der Kulturen der Welt finden und das Haus mit ihrem migrantisch-situierten Wissen mitgestalten. Sie sollen hier nicht präsentiert werden, sie sollen es sich zu eigen machen.“ Man darf gespannt sein! Hanno Hauenstein

Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Eröffnungswochenende am 2.–4. Juni 2022


Gerhard Richters „100 Werke für Berlin“ in der Neuen Nationalgalerie

Gerhard Richter, 90 Jahre alt und derzeit wohl einer der gefragtesten lebenden Künstler der Welt, hat der Nationalgalerie in Berlin 100 seiner Kunstwerke überlassen. Ab März bietet sich erstmals die Gelegenheit, diese Gemälde, Zeichnungen, Fotoübermalungen in Gänze in Augenschein zu nehmen. Alles, was dieser aus Dresden stammende, kurz vorm Mauerbau aus der DDR in den Westen abgehauene Wahl-Kölner seit 60 Jahren auf Leinwand und Papier setzt, aus Fotoalben genommen oder aus Zeitungen ausgeschnitten, fotografiert und dann bis zur Unschärfe übermalt hat, ist Teil seines außergewöhnlichen Bilder- und Zeichen-Systems. Es führt zum intellektuellen Kern seiner Arbeit. Darin hängt alles mit allem zusammen: bis hin zur Paradoxie. Und darum muss eigentlich jeder Versuch, dieses komplizierte System simpel zu erklären, scheitern.

Wer der Mann hinter der Farborgie ist, bleibt ein Geheimnis, das nur der Maler Gerhard Richter lüften kann: „6. März 2015, 2015, Übermalte Fotografie“.
Wer der Mann hinter der Farborgie ist, bleibt ein Geheimnis, das nur der Maler Gerhard Richter lüften kann: „6. März 2015, 2015, Übermalte Fotografie“.SMB/Leihgabe Stiftung Gerhard Richter

Das Œuvre des öffentlichkeitsscheuen Malers strebt, trotz der vom Kunstmarkt diktierten astronomischen Preise, nicht nach vergoldeten Bilderrahmen oder einem marmornen Sockel. Auch nicht nach Elogen, sondern eher nach intensiver Kommunikation – mit dem oft verstörenden politischen Weltgeschehen, mit der Kunstgeschichte sowie einer von Zweifeln und Experimenten getriebenen Befragung der eigenen Arbeit.

Und nach geistigem Austausch mit den Betrachtern. Herzstück der Ausstellung ist der aus vier großformatigen Motiven bestehende Zyklus „Birkenau“, 2014. Der Zyklus ist das Ergebnis langer Auseinandersetzung des Malers mit dem Holocaust und dessen Darstellbarkeit. Basis waren vier Fotografien aus dem KZ Auschwitz-Birkenau, die Richter auf die vier Leinwände übertragen hat, um sie dann nach und nach zu übermalen. Mit jeder Farbschicht verschwand die fotografische Vorlage ein bisschen mehr, bis sie schließlich nicht mehr sichtbar war. Zu dem Werk gehört auch ein großer, vierteiliger Spiegel – als zweite Ebene der Reflexion, Trauer und Mahnung. Und der Hoffnung. Ingeborg Ruthe

Neue Nationalgalerie, Potsdamer St. 50, ab 23. März bis Frühjahr 2026


Daniel Boyd, Untitled (MLBATS), 2021
Daniel Boyd, Untitled (MLBATS), 2021Courtesy des Künstlers und Kukje Gallery/Foto: Chunho An

Der Künstler Daniel Boyd im Gropius-Bau

Die Geschichten der Aborigine-Kriegerinnen in jenem Land, das heute Australien genannt wird, sind für viele dort lebende indigene Personen gerade heute wieder eine wirkmächtige kulturelle Referenz. Für den australischen Künstler Daniel Boyd war es insbesondere Pemulwuy, der Stammesführer des Bidjigal-Stammes, der einst in einen langwierigen Guerillakrieg mit den britischen Kolonisatoren lag.

Der in Sydney lebende Künstler ist bekannt für seine detaillierten, an grobkörnige Analogfotografie aus den frühen Tagen des Mediums erinnernden Punktmalereien. Boyds Bilder zeigen australische Landschaften, Anführer indigener Völker oder einfach nur Mitglieder der eigenen Familie. Boyd entblößt in seiner Kunst immer wieder eurozentrisch verengte Sichtweisen auf australische Geschichte. Und er interpretiert letztere neu, indem er sich ebenjene Bilder aneignet, die bei der Entstehung jener Geschichte eine zentrale Rolle spielten – etwa Porträts imperialer Leitfiguren wie König Georg III. Die Infragestellung romantisierter Vorstellungen der „Entstehung“ Australiens ist ein Motor in Boyds Arbeiten.

Bei aller kolonialismuskritischer Aufrichtigkeit blitzt in Boyds Werken immer wieder auch eine Prise Sarkasmus durch. Der hat, erzählte Boyd einst dem Guardian, seinen Ursprung in der der Unizeit des Künstlers, als er erstmals ein Porträt des bis heute als „Entdecker“ gefeierten Imperialisten James Cook erblickte. Boyd wollte die symbolische Macht verstehen, die das Gemälde auf das australische Publikum ausstrahlte. Und so begann er, Cooks Heldenmythos aktiv zu untergraben. In Boyds Bildern tragen Cook (und vergleichbare Figuren) etwa Augenklappen und Entermesser und erscheinen somit eher als plündernde Piraten und weniger als Helden. Mit „Rainbow Serpent (Version)“ eröffnet Boyd dieses Frühjahr im Gropius-Bau die bisher umfassendste Präsentation seines Schaffens in Europa. Dabei will er folgerichtig auch mit der Architektur des Gropius-Baus arbeiten. Der Lichthof als Piratenschiff? Wir werden sehen. Hanno Hauenstein

Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, von 24. März bis 9. Juli.


Christina Quarles „rassifizierte, queere Körper“ im Hamburger Bahnhof

Christina Quarles spannt surreale Körper in den Raum und  bezieht sich dabei auch auf queeres Leben: „Slick,“ 2022, Acryl auf Leinwand.
Christina Quarles spannt surreale Körper in den Raum und bezieht sich dabei auch auf queeres Leben: „Slick,“ 2022, Acryl auf Leinwand.Christina Quarles/Pilar Corrias/Hauser & Wirth

Die amerikanische Malerin Christina Quarles aus Los Angeles, Kind eines schwarzen Vaters aus Trinidad und einer weißen Mutter aus Chicago, hat ihre erste museale Einzelausstellung in Deutschland und entschied sich für eine architektonische Intervention. Sie sucht für ihre Gemälde und Zeichnungen die unmittelbare Nähe mit der Bildsprache in den Arbeiten von Absalon, Vito Acconci, Stanley Brouwn, Daniel Buren, Annette Kelm, Nam June Paik und Charlotte Posenenske. Sämtlich Werke aus der Sammlung der Neuen Nationalgalerie.

Diese vom neuen Direktoren-Duo Till Fellrath und Sam Bardaouil kuratierte Schau ist eine ausgesprochen spannende Gegenüberstellung von Quarles’ Motiven und denen aus der Berliner Kollektion jüngerer Kunst. Diese Zwiesprache eröffnet dem Publikum vielschichtige Zugänge zur Darstellung des menschlichen Körpers. Und widerlegt zudem die in der Moderne so oft wiederholte Hiobsbotschaft vom angeblichen Tod der Malerei. Quarles’ Bildsprache, vielen Besuchern ist sie von der Biennale Venedig 2022 in Erinnerung, kommt aus der virtuosen Auseinandersetzung mit der Erfahrung, in einem queeren Körper zu leben.

Die 1985 geborene Künstlerin lebt mit einer Frau, einem Baby und queeren Freunden als Familie, schafft komplexe Bilder, mal gestisch abstrakt, mal sehr körperlich und gleichsam surrealistisch aufgeladen. Sie zeigt Torsi, Gliedmaßen und Gesichter mit einem breiten Spektrum von Innenräumen und Objekten. Extreme prallen aufeinander: Lust und Schmerz. „Du kannst komplizierter und widersprüchlicher sein, wenn du nicht versuchst, die Leute dazu zu bringen, die Kurzschriftversion von dir zu verstehen“, sagt sie. „Du kannst einfach in deinem Körper sein.“ Dieses „in seinem Körper sein“ ist das zentrale Thema ihrer Gemälde, in denen die Farben verschmelzen und ambivalente Figuren in anatomisch unmöglichen Positionen agieren, durch den Raum zu fliegen scheinen. Ingeborg Ruthe

Hamburger Bahnhof, Nationalgalerie der Gegenwart, Invalidenstr. 51. Ab 24. März bis 17. September.


Televiews and Cable Radio, 1981, video, 11’18“, color, sound. Video still.
Televiews and Cable Radio, 1981, video, 11’18“, color, sound. Video still.Ulysses Jenkins

Ulysses Jenkins in der JSC Berlin

Ulysses Jenkins veränderte die Art, wie wir heute auf das Medium Video blicken: Vor allem, indem der Künstler die dem Medium innewohnenden Blickgewohnheiten und Stereotype freilegte. Durch seine schillernden Aufnahmen von Tanz, Musik, Lyrik und Kunst verwandelte er Videokunst in eine Ausdrucksform, in der die Schwarzen Lebensrealitäten seiner Zeit auf unterschiedliche Weisen zusammenwirkten. Jenkins’ frühe Videos waren so etwas wie anti-narrative Dokus, anfangs mit einer einfachen Sony-Heimvideokamera aufgenommen, teils zusammengeschnitten mit Klassikern der amerikanischen Filmgeschichte wie „Birth of a Nation“ und „Uncle Tom’s Cabin“. Deren rassistischer Tenor kontrastierte Jenkins’ atmosphärische Bilder.

Exaltierte Klamotten und bunt ausgeleuchtete Gesichter mischen sich bei Jenkins mit – für die Betrachterin seinerzeit wohl als Provokation wahrgenommener – Interaktion zwischen Filmendem und Gefilmten. Dass Jenkins vom Kanon lange nicht wirklich beachtet wurde, mag wohl auch daran gelegen haben: Seine experimentellen Videos wurden selbst an der Westküste der USA, wo Jenkins aufwuchs, in den 60er-Jahren noch als zu avantgardistisch angesehen. In einem semi-biografischen Video des Hammer Museums erzählt der Künstler von einer frühen Vorführung seines Werks: „Alle fingen plötzlich an zu lachen. Dabei machte ich nichts Komödiantisches. Ich versuchte nicht etwa, einen Witz zu erzählen, es war wirklich nur ein Bild in einer Pause. Das gab mir zu denken. Das ist die Art und Weise, wie die Leute Schwarze sehen wollen. Dass Leute über Bilder Schwarzer lachen.“

Jenkins, der sich vom weißen Mainstream lange Zeit entweder als Witzfigur oder als Bedrohung gesehen fühlte, kämpfte sich mit seinem Lebenswerk von diesem Bild frei. Er wusste sich ein Standing als ernstzunehmender Künstler zu verschaffen, der Einfluss auf radikale Videokünstler der Nachfolgegenerationen ausübte, wie etwa David Wojnarowicz und auch Arthur Jafa. Jenkins studierte bei der Assemblage-Ikone Betye Saar und dem Body-Art-Künstler Chris Burden und arbeitete etwa mit David Hammons und Barbara T. Smith. In seinen Videos spiegeln sich die Auseinandersetzungen mit Archivmaterial, Fotografie und Sound genauso wie die Themen Gender, Race und Geschichte. Dass „Without Your Interpretation“, die Ausstellung, die zuletzt im Hammer Museum in L. A. gezeigt wurde, jetzt nach Berlin kommt, ist ein kleines Highlight. Hanno Hauenstein.

Julia Stoschek Collection Berlin, Leipziger Str. 60. 11. Februar – 30. Juli


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