Es ist die Wucht der Welle, die den Blick bannt und einen wissen lässt, wie gefährlich Schönheit sein kann. Das wütende Meerwasser verschlingt die drei zierlichen Boote. Die Ruderer werden eins mit der Gischt. Hinter der dramatischen Naturgewalt, die die Menschen das Fürchten lehrt, duckt sich der Heilige Berg, zieht ängstlich seine Schneekuppe ein. Der majestätische Fuji kapituliert vor der stärkeren Naturkraft.
Die großen Museen auf unserem Globus dürfen neidisch sein: Für eine siebenstellige Summe erwarb soeben die Bayerische Staatsbibliothek aus einer Inkognito-Privatsammlung einen der berühmtesten Farbholzschnitte der Welt: Das 1831 (Edo-Zeit) vom japanischen Meistergrafiker Katsushika Hokusai (1760–1849) aus Langholz geschnittene, mehrfarbig gedruckte Tsunami-Monster: „Die große Welle vor der Küste bei Kanagawa“. Ein Schnäppchen, wie Kenner meinen, denn erst kürzlich wurde eine Hokusai-Welle von Privat für 2,76 Millionen Dollar bei Christie’s New York versteigert.
Der Kauf sei der Schluss – und zugleich Höhepunkt einer Reihe von Erwerbungen von Werken des japanischen Künstlers durch die Bibliothek, heißt es. München zählt damit zu den wenigen Staatlichen Museen auf der Welt, deren Sammlungen eine derartige Preziose besitzen. In Deutschland konnte sich bislang allein Hamburgs Museum für Kunst und Gewerbe damit brüsten. Zu den anderen Glücklichen zählen das Metropolitan Museum New York, das British Museum London, das Monet-Haus Giverny, das Nationalmuseum Tokio, das Rijksmuseum Amsterdam, das Los Angeles County Museum. Und das Museum für angewandte Kunst Wien.
Kaum Din-A2-formatig ist das einzigartige Blatt aus der Serie „36 Ansichten des Berges Fuji“. Eines aus der hochauflagigen Edition von 1831/32 war vor zwölf Jahren in der Hokusai-Retrospektive der Berliner Festspiele im Gropius-Bau zu sehen, eine Leihgabe aus Tokio. So klein – und doch die insgeheime Ikone. Der heilige Berg ist im Hintergrund zu sehen, im Vordergrund die gewaltige Welle. Die Darstellung wird seit Hokusais Zeit als Verkörperung der Schönheit wie auch der Zerstörungskraft der Natur, als Metapher für die Vergänglichkeit menschlichen Lebens, aber auch des Öfteren als Symbol für das Eindringen des Westens in Japan gedeutet. Tatsächlich kommt der Begriff „Tsunami“ aus dem Japanischen, er steht – wie niedlich – für „Hafenwelle“, denn es gibt in diesem traditionsreichen, doch katastrophengeplagten Inselstaat im Japanischen kein Wort für ein Ereignis im apokalyptischen Sinne, wie es der Westen benutzt.
Den Horror des Klimawandels, getrieben vom vermeintlichen technischen Fortschritt, konnte Hokusai wohl kaum vorhersehen. Heute wirkt sein Motiv auf eine eher sarkastische Art prophetisch. Die Monsterwelle von 1831 wurde über Nacht zur Metapher; zuerst nach der todbringenden Wasserwand 2004 im Indischen Ozean. Und erst recht nach dem verheerenden Erdbeben, dem Tsunami und der darauffolgenden Fukushima-Reaktor-Explosion an der Ostküste Japans im März 2011.


