Werk der Woche

Bildwelt als Weltbild: In Michael Hegewalds Arkadien ist die Harmonie gestört

Der Berliner Maler Michael Hegewald verortet seine Motive unter weiten Himmeln und am Meer. Behaglich sind sie nicht, wie wir in der Galerie 100 sehen können.

 „Häuser im Latium“, Öl auf Leinwand, 2023 
„Häuser im Latium“, Öl auf Leinwand, 2023 VG Bildkunst 2023/Michael Hegewald/Eric Tschernow

Man sollte nicht glauben, was einem der erste rasche Blick suggeriert: Italiensehnsucht ist hier nicht auf die Leinwände gepinselt und gespachtelt. Auch nicht das Fernweh nach anderen südlichen Stränden. Schön und nach längerem „Hineinsehen“ leicht beunruhigend sind all die sublim gemalten Bilder an den Wänden der beliebten kommunalen Hohenschönhausener Galerie 100.

Michael Hegewalds fast metaphysische Landschaften mit diesen erratischen geometrischen Bauten unter weiten Himmeln und direkt am Meer gibt es so nicht in der Realität. Der aus dem Berliner Osten stammende Maler hat die einst unerreichbar scheinenden Mittelmeergestade natürlich bereist, seitdem die Mauer fiel. Diese Motive indes hat er erfunden, wie bereits Jahre zuvor seine bebauten Ostseestrände – als eine Art melancholischen Wachtraum vom „Berlin am Meer“, eine Utopie, der schon Maler aus Generationen vor ihm anhingen, etwa Werner Heldt, der sich so aus dem steinernen Berlin und vor allem aus den Kriegsruinen von 1945 wegträumte auf den Darß.

„Auf der Klippe (IV)“,   Öl auf Leinwand, 2023
„Auf der Klippe (IV)“, Öl auf Leinwand, 2023VG Bildkunst 2023/Michael Hegewald

Hegewald hat sein Arkadien des frühen 21. Jahrhunderts also frei erfunden, all die „Häuser im Latium“, die „Elegien“, die „Nocturne“-Szenen, die aber gar nicht szenisch sind, obwohl sie wie stumme Bühnen wirken. Man muss an die Kubisten denken und mehr noch an die „pittura metafisica“, an die leicht unheimlichen Turmbauten des Italieners Giorgio de Chirico so um 1913. Auch bei Hegewald entsteht diese unwirkliche, traumartige, menschenleere Atmosphäre durch die uneinheitliche Perspektive, die verschiedenen Lichtquellen, die harten bis übergroßen Schatten – und durch den beinahe halluzinatorischen Blick auf die Architekturen. Jedes Ding, so de Chirico, habe zwei Erscheinungsformen, eine übliche, die immer sichtbar sei und wahrgenommen werde, und die andere, geisterhafte, die nur von einigen wenigen Menschen im Moment tiefster Einsicht und metaphysischer Abstraktion erkannt würde. Er zog damals den Vergleich mit den 1895 entdeckten Röntgenstrahlen, die Unsichtbares sichtbar machen könnten.

Hegewalds enigmatische Landschaften erzählen nichts, aber sie stehen für unsichtbare Dramen, diese „Etüden in Schwarz“, das seltsame, gefährlich über dem Abgrund gesetzte „Haus auf der Klippe“, so gespenstisch einsam, als sei es als Zitat aus einem Edward-Hopper-Bild hinausgewandert auf die Leinwand in einem Berliner Atelier. Alles, was wir in diesen Bildern zu lesen versuchen, erschließt sich aus dem Hell-Dunkel mit feinen Valeurs aus Blau, Grau, Rost, Ocker, Violett und Schwarz. Und aus den Giebeln, weiß, mal gleißend, mal kühl. Alles wirkt bisweilen licht und leicht, dann wieder schwer. Manchmal samtig und plötzlich rau, ja schrundig. Und meist balancierend zwischen ganz feiner Wehmut und kühler Distanz. Selbst Hegewalds Stillleben – Muscheln in einer Schüssel, Brot, Kekse auf dem Tisch, fossile Kegelschnecken, Gläser, Kugeln, Stäbe, Miniaturflaggen, ein gestrandeter Fisch als „Nature Morte“-Zeichen – sehen aus wie Architekturen aus einer mal verkleinerten, dann, durch die Vordergrundwirkung, vergrößerten Welt.

„Nocturne“, Öl auf Leinwand, 2023
„Nocturne“, Öl auf Leinwand, 2023VG Bildkunst 2023/Michael Hegewald

Michael Hegewald, Jahrgang 1955, einst Student an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee bei Meistern wie Dietrich Noßky und Dieter Goltzsche, schafft seine merkwürdigen „Landschaften“ außerhalb des Alltäglichen mit einem hohen Maß an Sinnlichkeit. Und doch sind die Stille, die vermeintliche Schönheit seiner Motive durchdrungen „von einer leichten Übelkeit der Seele“, wie einst der Zeichner und Maler Gerhard Altenbourg seine Grundstimmung beschrieb.

Und so macht Hegewald, ein Maler aus dem Prenzlauer Berg, seine Bildwelten vor unseren Augen und durch unsere Assoziationen zu Weltbildern. Es gibt schon lange kein Arkadien mehr. Aber das, was blieb, sind Utopien, ausgedrückt in geometrischen Grundformen. Fast wie Spielzeuge muten Quader, Rhomben, Kegel, Dreiecke, Trichter an und all die konkreten wie amorphen, surrealen Formungen. Sie haben alles Abbildhafte, mit konkreten Bedeutungen Aufladbare, verlassen.

Der Berliner Maler Michael Hegewald aus dem Prenzlauer Berg.
Der Berliner Maler Michael Hegewald aus dem Prenzlauer Berg.Laura Hegewald

Dieser nachdenkliche Maler verzichtet zumeist auf figürliche Details, konzentriert sich – fern von allem Szenischen – auf das Wesentliche. Hegewald reduziert seine Bildmittel, die geometrischen und metaphorischen Details, klappt die wie hermetischen, dann wieder mit Fenstern und Türen versehenen Architekturen in den Bildraum hinein, der dadurch begrenzt erscheint, auch wenn die Streifen am Horizont, die Weite von Himmel und Meer etwas anderes suggerieren. Als wollten diese Bilder besagen: Wir Menschen können, sollen, dürfen uns ins Unendliche träumen – Besitz ergreifen können wir jedoch nicht. Wir sind alle nur eine Zeitlang zu Gast auf dieser Erde, die wir aber im Begriff sind zu zerstören: ihren erschöpflichen Reichtum, ihre organische und anorganische Ordnung, ihre Balance. Manchmal sehen Hegewalds Bauten am Meer, gerade auf dem panoramaartigen Gemälde der „Häuser im Latium“, aus, als würden sie gleich wegschwimmen, auf einer Erdscholle hinaus aufs Wasser. Wie Archen.

Michael Hegewald. Galerie 100, Konrad-Wolf-Str. 99, Berlin-Hohenschönhausen. Bis 15. Oktober, Di–Fr 10–18/Sonntag 14–18 Uhr. Eintritt frei.