„Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstenen Hüfte, einem verschorftem Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs …“
So beginnt der 1000-seitige Romanklassiker „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss, der auch als eine Art Einübung in die Unvollständigkeit gelesen werden kann. Im September 1937 hatte sich eine kleine Gruppe antifaschistischer Kämpfer auf der Berliner Museumsinsel vor dem Pergamonaltar versammelt, um ihre politischen Ideen mit den Grundlagen einer anderen Ästhetik zu verknüpfen. Für ein paar Stunden, in denen sie den Fries betrachteten, dessen Formen besprachen und sich einprägten, gewährte ihnen das Museum gleichsam einen Schutz- und Optionsraum für das Nachdenken über eine andere Gesellschaft in der Zeit nach der totalitären Herrschaft. Wenigstens das.
Nur langsam dringt die schnöde Nachricht, dass das Berliner Pergamonmuseum voraussichtlich bis 2027 und der südliche Gebäudeteil bis 2037 für Besucher geschlossen bleiben wird, mit ihren für die Stadtgesellschaft dramatischen Folgen erst allmählich ins Bewusstsein. Es ist der Entzug einer Erfahrungswelt, den vor allem die Kunst bereitzuhalten imstande ist, einen öffentlichen Raum, den man eilig durchqueren kann, der aber auch die Einkehr in vergangene und zukünftige Welten verheißt. Insgesamt 1,2 Milliarden Euro soll die Sanierung kosten, davon sind allein 300 Millionen an Preissteigerungen während der Bauarbeiten eingeplant.
„Wer jetzt kein Haus hat …“
Das klingt nach weiser Voraussicht, markiert aber letztlich eine Entwicklung, in der das einst als Multioptionsgesellschaft beschriebene Gemeinwesen, in dem alles möglich und das meiste jederzeit verfügbar ist, auf eine langanhaltende Phase des Mangels eingeschworen werden muss. Dabei geht es nicht allein um Inflation, die Investition in Sondervermögen und mutmaßlich steigende Materialkosten, sondern ganz generell um eine Vakanz von Gewerken, die noch in der Lage sind, ein derart anspruchsvolles Bau- und Restaurierungsvorhaben zu bewältigen. „Wer jetzt kein Haus hat“, ist man geneigt, Rilkes bis zur Pathosgrenze ausgereiztes Gedicht zu parodieren, „baut sich keines mehr“ – weil gerade niemand zu bekommen ist, der Solarpaneele anbringen und Heizungsanlagen umrüsten kann. Das Fiasko Pergamonmuseum scheint zudem aus einer Arglosigkeit hervorgegangen zu sein, in der klimaneutrales Bauen und ein paar Hundert Millionen Euro mehr oder weniger noch keine Rolle spielten.
Deutschland ist Umbauland, aber das Zutrauen ist dahin, dass Fertigstellung auch einen soliden gesellschaftlichen Gebrauch nach sich ziehen wird. Auf dramatische Weise entkoppeln sich gerade das Zusammenspiel von Plan- und Machbarkeit als Voraussetzung für ein gesellschaftliches Gelingen. Das Selbstbild der 2000er-Jahre, in denen Deutschland sich als offene Gesellschaft feierte und sich nicht allein wegen der bevorstehenden Fußball-WM mit dem Slogan „más integratión“ zu einer Art inneren Gastfreundschaft bekannte, ist erodiert. Die Fähigkeit zu Zweifel und Selbstreflexion, der es für Zukünftiges unbedingt bedarf, geht inzwischen einher mit einer fatalistischen Lust am Scheitern. Ein Flughafen, der erst fertig wird, wenn das Abheben aus ökologischen Gründen vollends diskreditiert ist, orchestriert auch den Gefühlshaushalt einer im Mobilitätsdilemma feststeckenden Gesellschaft.
Über das bloße Entsetzen hinaus sind einige Soziologen schon ein paar Schritte weiter auf der Suche nach einem Leitmotiv für die nächste Gesellschaft. Vor dem Hintergrund eines immer deutlicher hervortretenden Verlusts an Steuerungsfähigkeit hat etwa Philipp Staab den lange als verpönt geltenden Begriff der Anpassung aufgemöbelt und das Prinzip der Selbsterhaltung gegen das modernistische Mantra individueller Selbstentfaltung in Stellung gebracht.
Was der Name Einstürzende Neubauten verriet
Erst allmählich wird deutlich, dass die Verbindung von ironischer Distanz und der dekonstruktivistischen Lust auf Neues, die im Namen der Berliner Kultband Einstürzende Neubauten auf signifikante Weise zum Ausdruck kam, kein hinreichender Gegenentwurf zum neoliberalen Fahren auf der letzten Rille sein konnte. Aus dieser Perspektive hatte das Pochen auf den Erhalt von Infrastruktur stets etwas lästig Hausmeisterhaftes.




