Die Fähigkeiten eines guten Dokumentarfilmers ähneln denen eines Geisterjägers: Es geht darum, dem schwer Verständlichen bis Unfassbaren auf die Schliche zu kommen. Und wenn David Bowie, der große, genialische Gestaltwandler des Pop, kein Geist ist, ja, wer dann?! Im Werbetext zum Soundtrack des neuen Dokumentarfilms über David Bowie heißt es: „‚Moonage Daydream‘ beleuchtet das Leben und Genie von David Bowie, einem der produktivsten und einflussreichsten Künstler der jüngeren Musikgeschichte.“ Alles daran stimmt – außer dass „Moonage Daydream“ (benannt nach einem Bowie-Song von 1972) irgendetwas beleuchten würde; geschweige denn Bowies Leben. Letztlich geht „Moonage Daydream“ Bowies Genie auf den Leim. Schon okay so. Es gibt Schlimmeres.
Die erste Einstellung des Films: Wir schweben über einer Mondkraterlandschaft. Major Tom lässt grüßen. David Bowies Stimme philosophiert aus dem Off (als wäre sie eine abstrakte, anmaßende Weisheitsentität im Weltraum) über die Natur der Zeit – wie das auch schon der olle Augustinus in der Antike tat, in seinen „Bekenntnissen“, die als die erste literarische Autobiografie aller Zeiten gelten. Gewissermaßen ist auch „Moonage Daydream“ eine Autobiografie, denn Filmemacher Brett Morgen lässt eigentlich nur David Bowie zu Wort kommen. Nach dem Prinzip: Wer ist Bowie? Na, Bowie wird es ja wohl wissen!
Bis auf eine Handvoll Fans, die irgendwann auch mal dreisekündige O-Töne beisteuern dürfen, etwa dass Bowie „camp, aber sexy“ sei, gibt es keine Stimmen von Expert:innen und Weggefährt:innen. Einen klassischen Musiker-Dokumentarfilm wollte Morgen, der sich einen Namen gemacht hat mit Filmen zu Kurt Cobain und zu den Rolling Stones, ganz offensichtlich nicht machen. Wozu auch. In Cannes (wo „Moonage Daydream“ 2022 außer Konkurrenz lief) gab es vermutlich gerade deshalb Applaus.

Warum so viel aus dem TV-Archiv?
Vier Jahre lang wurde Brett Morgen die Ehre zuteil, sich durchs komplette Archiv des 2016 kurz nach seinem 69. Geburtstag verstorbenen David Bowie zu wühlen. Unzählige Fotos, Videos, Tonbänder muss er sondiert haben. Brett Morgen ist der erste Filmemacher, der dies durfte – und „Moonage Daydream“ ist der erste Film, dem die Bowie-Erben ihren Segen erteilten. Vielleicht liegt darin das Problem: Morgen muss sich derart an Bowie berauscht haben, dass ihm jegliche Distanz fehlte. Man muss sich aber auch fragen: Wenn einer mehr oder weniger alles zeigen kann, was über Bowie existiert, warum kommen dann so viele TV-Interviews in „Moonage Daydream“ vor, also Material, das der Öffentlichkeit längst vorlag?

„Es sind halt Schuhe-Schuhe, Dummkopf!“
Sicher, Bowie glänzt geistreich. Etwa als der Interviewer wissen will, ob diese Glitzer-Highheels, die Bowie trägt, jetzt eigentlich Männerschuhe oder Frauenschuhe oder bisexuelle Schuhe seien. „Es sind halt Schuhe-Schuhe, Dummkopf!“, kontert Bowie, der Androgynitätspionier. Und lacht charmant. Er hat die Sympathien ganz auf seiner Seite. Wie sollte er auch nicht? So geistreich Bowie in diesen Interviews sein kann, so geisterhaft bleibt er aber auch meistens darin. Das Maximum an Gossip, das uns Bowie gönnt: ein Eingeständnis, dass er sich die Liebe nicht den Weg kommen lasse. Das sagt er in einem der verwobenen TV-Interviews. It’s lonely at the top, so weit, so schlecht. Bowie bleibt unnahbar.
Nun könnte man natürlich auch argumentieren: Bowie ist eben sein Werk. Es gibt nichts dahinter, das zu interessieren hätte. Und vom Werk sehen und hören wir durchaus eine ganze Menge: Drei Dutzend Nummern zählt der Soundtrack, allesamt von Bowie, von wem auch sonst. Für Fans sind einige exklusiv für den Film erstellte Mixe und noch andere unerhörte Raritäten dabei, etwa ein Live-Medley von „The Jean Genie / Love Me Do / The Jean Genie“, aufgenommen 1973 beim legendären letzten Ziggy-Stardust-Konzert im Hammersmith Odeon, London.

Sehen wir Bowie? Und wenn ja, wie viele?
Wir sehen Bowie in Giftgrün und Barbiepink. Wir sehen ihn im Rotlicht anstatt auf dem roten Teppich. Wir sehen ihn mit so viel Glitter und Make-up garniert, dass er seinem Androiden gleicht. Wir sehen ihn mit soviel Kajal im Gesicht, dass noch Bill Kaulitz’ Urenkel davon zehren könnten. Wir sehen einen, dessen Blick im Sekundenbruchteil von Schelm-Modus auf Gruselclown umschalten kann. Wir sehen den Rockstar-Messias, der das Alte Testament des Rock’n’Roll samt Mackergehabe hinter sich ließ. Aber sehen wir ihn wirklich, Bowie? Und wenn ja, wie viele?
Es fällt leicht, sich der morgenschen Montagekunst hinzugeben, schwerelos wie Major Tom. Die Musik ist über jeden Zweifel erhaben. Und auch von Bowies Sprechstimme lässt man sich gern einlullen. Selbst wenn Morgen auf der Bildebene mitunter hektisch schneidet, hält die hallende Stimme alles zusammen, von Filmschnipseln aus Metropolis und „Nosferatu“ bis hin zu Bildern einer Atombombe. Anders als bei der sehr schönen Dokuserie „The Any Warhol Diaries“ (Netflix) musste für diese Stimme ja nicht mal eine künstliche Intelligenz verpflichtet werden. Nur Bowie spricht hier Bowie. Und er liebt es, verbale Nebelkerzen zu werfen, die mehr zusätzliche Verwirrung stiften, anstatt irgendetwas aufzuklären.

Wo bleibt Berlin in „Moonage Daydream“?
Von Berlin ist auch nicht viel zu sehen: kurz mal die Mauer und der Bahnhof Zoo. Immerhin. Kein WG-Buddy Iggy Pop. Kein Brian Eno in den Hansa Studios. Man muss sich halt auch eingestehen, dass Bowies Zeit von 1976 bis 1978 in Berlin maßlos überschätzt wird. Vielleicht sollten wir auch aufhören, uns daran aufzugeilen, dass er mal kurz hier war. „Heroes“ gönnt uns „Moonage Daydream“ immerhin; den Song, den Bowie in den Hansa Studios am Potsdamer Platz mit Blick in den Osten schrieb. Der Legende nach hat er ein Liebespaar an der Mauer erspäht, das dort rummachte.

