Interview

Marvel-Regisseur Sam Raimi: „Comics sollten nicht das dominierende Ultimum sein“

Er setzte den Grundstein für den Marvel-Boom im Kino, nach einem vermasselten Film zog er sich zurück. Sam Raimi übers Scheitern, CGI und Comic-Übersättigung.

Regisseur Sam Raimi nimmt am Fotocall des Films „Doctor Strange in the Multiverse of Madnes“s im Hotel Ritz-Carlton teil.
Regisseur Sam Raimi nimmt am Fotocall des Films „Doctor Strange in the Multiverse of Madnes“s im Hotel Ritz-Carlton teil.dpa/Gerald Matzka

Sam Raimi hat Western („Schneller als der Tod“), Thriller („Ein einfacher Plan“) und Sportfilme („Aus Liebe zum Spiel“) gedreht, doch berühmt ist er für anderes. Einerseits für Horrorfilme wie die „Tanz der Teufel“-Reihe, mit der dem Amerikaner Anfang der 80er-Jahre der Durchbruch gelang. Und natürlich für die erste „Spider-Man“-Trilogie, die ab 2002 den Grundstein des heutigen Superhelden-Booms legte. Neun Jahre nach seiner letzten Regiearbeit „Die fantastische Welt von Oz“ kehrt Raimi nun in die Welt der Comic-Verfilmungen zurück: Anlässlich des Starts von „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ trafen wir ihn im Berliner Ritz Carlton Hotel zum Interview.

Berliner Zeitung: Mr. Raimi, vor 20 Jahren begann Ihre „Spider-Man“-Trilogie, die viele als den Beginn des Superhelden-Kinos bezeichnen würden, das heute die Leinwände dominiert. Doch kaum jemand hätte damit gerechnet, dass Sie selbst noch einmal in dieses Genre zurückkehren würden.

Sam Raimi: Ich selbst auch nicht. „Spider-Man 3“ wurde für mich bekanntlich zu einer Katastrophe, niemand mochte den Film. Deswegen wollte ich eigentlich unbedingt noch einen vierten Teil drehen und es bei den Fans wieder gutmachen, doch das Drehbuch war nicht stark genug, und am Ende blieb mir nicht genügend Zeit. Damit war das Thema Superhelden für mich eigentlich abgehakt. Doch dann meldete sich eines Tages Marvel-Chef Kevin Feige, der damals an meinen „Spider-Man“-Filmen als Assistent des Produzenten Avi Arad beteiligt war. Bei „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ war ihnen der ursprüngliche Regisseur weggebrochen, ob ich Interesse hätte einzuspringen. Mir schmeichelte die Frage – und weil ich den ersten Teil und Benedict Cumberbatch in der Rolle wirklich gerne mochte, hatte ich tatsächlich Lust.

Was gefällt Ihnen denn speziell an diesem Helden?

Ich mag vor allem, dass er quasi das Gegenteil von allem ist, was ich an Spider-Man als Figur so liebte. Der war ein junger Kerl, der Bescheidenheit und ein Gefühl von Verantwortung lernen musste, eine große Verunsicherung erlebt und versucht, das Richtige zu tun. Doctor Strange dagegen ist sich sicher, dass er sowieso stets das Richtige tut, denn er strotzt nur so vor Selbstbewusstsein. In diesem zweiten Film geht es entsprechend viel um seine Hybris, sein mangelndes Vertrauen in andere und seine Fehlannahme, er könne als einziger die Fehler der anderen korrigieren.

Viel mitgestalten konnten Sie allerdings nicht, Doctor Strange und seine Welt sind schließlich längst etabliert und fester Bestandteil des Marvel-Universums. Fühlten Sie sich da in Ihren künstlerischen Freiheiten arg eingeschränkt?

Ehrlich gesagt empfand ich gerade diese Beschränkung als reizvoll. Nicht selbst alles entwerfen zu müssen, sondern quasi den Staffelstab zu übernehmen und damit zu arbeiten, was schon da war – das war für mich ein ganz anderer Job, mit vollkommen neuen Aufgaben. Ich musste mich vor allem natürlich richtig einarbeiten: lernen, was bisher auch in den anderen Filmen geschah, was das Publikum erwartet, wo die Figuren am Ende dieser Geschichte stehen müssen, damit es in den nächsten wie geplant weitergehen kann. Und weil Elizabeth Olsen alias Wanda Maximoff dieses Mal eine tragende Rolle spielt, musste ich natürlich auch „WandaVision“ gucken.

Sie hatten also über die Jahre nicht alle Marvel-Filme und -Serien gesehen? Wie versiert waren Sie im Marvel Cinematic Universe?

Anfangs habe ich das noch alles verfolgt. „Iron Man“ fand ich großartig, ebenso den ersten „Avengers“-Film und den ersten „Captain America“. Aber dann bin ich ehrlich gesagt ausgestiegen, denn ich war noch etwas übersättigt von meinen eigenen Superhelden-Erfahrungen. Ich hatte nun also einiges nachzuholen.

Aber dafür wissen Sie jetzt sicher schon mehr als die Fans, was kommende Produktionen angeht, oder?

Eigentlich kaum. Wer für Marvel arbeitet, erfährt immer nur gerade so viel, wie er oder sie fürs aktuelle Projekt unbedingt wissen muss. Das ist wie bei den Spionen, die damals im Kalten Krieg in die Sowjetunion geschickt wurden. Die erfuhren auch nie etwas über andere Missionen, sondern wussten nur über die eigene Bescheid.

Außer für „Spider-Man“ kennt man Sie vor allem für Ihre Horrorfilme wie „Tanz der Teufel“ oder „Armee der Finsternis“. Konnten oder sollten Sie gar diese Expertise nun auch bei Marvel mit einbringen?

Schon als noch Scott Derrickson den Film inszenieren sollte, kündigte Kevin Feige an, dass „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ Marvels erster Horrorfilm sein solle. Und auch bei mir galt die Ansage, die Sache zu einem gruseligen, unheimlichen Vergnügen zu machen. Gut möglich also, dass sie auch deswegen an mich als Ersatz dachten, weil ich eben Erfahrung in Sachen Horror mitbringe.

Aber wirklich düsterer Horror ist der Film ja nun nicht geworden.

Das nicht. Aber doch ein wenig gruseliger, hier und da. Ansonsten ist er knallig und lustig und hat vor allem dadurch, dass wir uns in die verschiedenen Realitäten des Multiversums begeben, auch einen coolen Science-Fiction-Aspekt.

Xochitl Gomez als America Chavez, Benedict Wong als Wong, and Benedict Cumberbatch als Doctor Strange im neuen Film von Sam Raimi.
Xochitl Gomez als America Chavez, Benedict Wong als Wong, and Benedict Cumberbatch als Doctor Strange im neuen Film von Sam Raimi.AP/Marvel Studios

In Sachen Spezialeffekte hat sich viel getan, seit vor 20 Jahren „Spider-Man“ in die Kinos kam. Mussten Sie in Sachen Computertricks viel Neues dazulernen?

Mit jedem Film lernt man Neues dazu, ohne Ausnahme. Und gerade in Sachen CGI verändert sich ständig einiges, auch zwischen den einzelnen „Spider-Man“-Filmen wurden ständig technische Fortschritte gemacht, und seit meiner letzten Regiearbeit „Die fantastische Welt von Oz“, die 2013 in die Kinos kam, hatte sich auch wieder einiges getan. Das war also nicht ein riesiger Sprung, sondern es waren eher tausend kleine Schritte, die außerdem nicht spurlos an mir vorbeigegangen waren. Mir hat es Spaß gemacht zu lernen, was nun alles möglich ist, zumal ich mich dafür natürlich mit absoluten Experten umgeben habe.

Ist die Technologie heutzutage so weit, dass es eigentlich nichts mehr gibt, was man nicht machen kann?

Ich sehe das anders: In meinen Augen war immer schon alles machbar. Es war nur eine Frage wie. Aber denken Sie an Fritz Langs „Metropolis“ und das dabei von Kameramann Eugen Schüfftan entwickelte Schüfftan-Verfahren, bei dem mit Modellen und Spiegeln gearbeitet und zwei Bilder zu einem kombiniert wurden. Und schon Méliès ließ 1902 eine Rakete ins Auge des Mondes fliegen! Wir haben seither weniger Unmögliches möglich gemacht, sondern vor allem unsere Methoden verfeinert.

Auch in anderer Hinsicht hat sich in den rund 45 Jahren Ihrer Karriere in der Filmbranche vieles verändert. Macht Ihnen die Arbeit noch so viel Freude wie in den Achtziger und Neunziger Jahren?

Wie alle Handwerker alter Schule muss ich sagen, dass mir die guten alten Zeiten schon fehlen. Ich vermisse es, auf Zelluloid zu drehen, die Filmrolle gegen das Licht zu halten, um zu sehen, ob die Anschlüsse passen, all diese Dinge eben. Wenn ich an die wunderbare Cutterin Edna Ruth Paul denke, die damals den ersten „Tanz der Teufel“ geschnitten hat, werde ich wehmütig. Ihr dabei zuzusehen, wie sie mit ihrer Moviola-Maschine arbeitete, das war, als wäre da eine Weltklasse-Schneiderin am Werk. Darüber hinaus fand ich auch übrigens nie, dass die Bildqualität beim digitalen Drehen so viel besser sei als bei Film, wie immer behauptet wurde. Im Gegenteil: Gucken Sie sich heute mal die ersten Sachen an, die damals digital in 2K gedreht wurden. Netflix zum Beispiel zeigt solche Filme gar nicht mehr, weil die Auflösung nicht ihren Qualitätsstandards entspricht. Und es gibt Dinge, die ich in 4K gedreht habe, an die ich eigentlich nicht mehr herankomme, weil keine neue Software mehr damit kompatibel ist. Ein Zelluloid-Film von 1910 dagegen lässt sich auch heute noch mit den passenden Geräten abspielen!

Bleiben wir noch kurz in der Vergangenheit und kommen zu „Spider-Man“ zurück. Vor 20 Jahren waren solche Comic-Verfilmungen eine Ausnahme und Ihr Film einer der ersten ganz großen Hits. Heute dominiert das Genre die gesamte Kino- und Popkultur. Haben Sie das vorhergesehen?

Ich war mir immer sicher, dass Superhelden-Geschichten das Zeug haben, unglaublich populär zu sein – und verstand nie, warum das im Kino lange Zeit nicht der Fall. Meinen ersten Superhelden-Film brachte ich 1989 in die Kinos; das war damals „Darkman“, weil ich die Rechte für „Batman“ oder „The Shadow“ nicht bekam. Mein Glück war, dass damals der große Stan Lee den Film mochte, mich treffen wollte und dann fragte, ob ich nicht einen Marvel-Film drehen wolle. Meine Wahl fiel auf „Thor“, und wir klopften mit der Idee bei neun verschiedenen Hollywood-Studios an. Niemand wollte den Film machen, weil keiner das Potential darin erkannte und ohnehin die Marke Marvel Comics eher für Achselzucken sorgte. Erst „Blade“, der erste „X-Men“-Film, und dann natürlich „Spider-Man“ änderten das. Aber es braucht eben immer erst ein paar Erfolgsgeschichten, bevor Hollywood wirklich hellhörig wird.

Heute starten Filme und Serien über Superhelden fast im Wochentakt. Droht da nicht auch die Gefahr einer Übersättigung?

Auf jeden Fall. Comics sind gut und wichtig und haben in unserer Kultur ihren Platz, aber sie sollten nicht das alles dominierende Ultimum sein, wie es aktuell der Fall ist. Ich würde mir wünschen, dass solche Geschichten wieder ein bisschen mehr an den Rand gedrängt und vor allem als kurzweilige Unterhaltung gesehen werden, damit das Kino auch wieder zu einem Ort für große Klassiker und mehr werden kann. Wenn ein Genre alles andere verdrängt, ist damit niemandem gedient.

Eine kleine Ernüchterung über den Zustand der Branche meint man bei Ihnen schon durchzuhören. Ist das auch der Grund dafür, dass Sie, wie erwähnt, neun Jahre lang keinen neuen Film gedreht haben?

Ich habe mich tatsächlich bewusst versteckt, allerdings eher meiner eigenen Erfahrungen wegen. Mit Backlash und Zurückweisung klarzukommen fällt mir schwer, gerade bei „Spider-Man 3“ war das fürchterlich. Es schmerzt mich, wenn die Leute meine Arbeit nicht mögen. Und ich sehe mich eben auch nicht als Künstler, der sich sagt: Hauptsache mein Kunstwerk existiert, egal ob es jemand sieht. Ich bin Entertainer, und wenn ich die Menschen nicht unterhalte, zum Lachen und Staunen bringe, dann bin ich gescheitert. Für eine Weile fiel es mir deswegen leichter, mich auf die Position des Produzenten zurückzuziehen. So konnte ich weiter Teil der Branche bleiben und Filme machen, dabei aber mal eine Weile lang anderen Filmemachern die künstlerische Federführung überlassen. Bis dann eben der Anruf wegen „Doctor Strange“ kam – und ich instinktiv merkte, dass die Zeit reif war für einen neuen Film.

Doctor Strange in the Multiverse of Madness, Spielfilm, 126 Minuten, R. Sam Raimi, ab 5. Mai im Kino