Eine Familie wird aus ihrer Mietwohnung in der Stadt verdrängt und will aus der Not eine Tugend machen. Die Eltern kaufen überstürzt ein renovierungsbedürftiges Haus im Vorort, ein potenziell idyllisches Zuhause für die Teenager-Tochter Doreen (Dora Zygouris) und ihren kleinen Bruder, der in ein paar Monaten auf die Welt kommen soll. Doch der Traum zerplatzt. Es kommt nicht genug Geld rein, die Mutter muss ins Krankenhaus, Doreen vereinsamt.
Die Regisseurin Mia Maariel Meyer und der Schauspieler Hanno Koffler haben das Drehbuch zu „Die Saat“ gemeinsam entwickelt, er spielt die Hauptrolle des Vaters Rainer, sie führte Regie. Die beiden sind auch privat ein Paar.
Berliner Zeitung: Vom Beginn der Arbeit am Drehbuch bis jetzt zum Kinostart sind sieben Jahre vergangen. Wie hat sich Ihr Verhältnis zu dem Projekt in dieser Zeit verändert?
Hanno Koffler: Es ist ein bisschen so wie die Beziehung zum eigenen Kind. Wenn die Kinder irgendwann erwachsen und ausgezogen sind, dann sieht man sich natürlich seltener. Vielleicht wird man sich sogar ein bisschen fremd. Doch die alte Verbindung, die Liebe bleibt.
Hat sich Ihr Blick auf die zentralen Themen in der Zeit gewandelt? Es ist viel passiert, besonders in den vergangenen zwei Jahren.
Koffler: Ich glaube schon, dass sich die Themen des Films durch Corona weiter zugespitzt haben. Die Sehnsucht nach Empathie, nach Zusammenhalt und menschlichem Umgang ist gestiegen.
Hat die Pandemie die Menschen näher zusammengebracht oder weiter auseinandergetrieben?
Gewisse Gräben sind sicher größer geworden. Man kann schon beobachten, dass viele Menschen noch mehr als vorher nur an sich denken, was natürlich auch damit zu tun hat, dass bei vielen die existentiellen Nöte einfach größer geworden sind.
Sie benennen im Film nicht konkret, wo genau die Geschichte spielt. Warum?
Mia Maariel Meyer: Unser Film spielt an einem fiktiven Ort, weil wir die Themen, die wir ansprechen, für universell halten und sie nicht auf ein Land oder sogar Bundesland festlegen wollten. Er handelt von Leistungsdruck, Wettbewerb und der Frage, wie das Konzept Familie unter diesen Voraussetzungen eigentlich noch funktionieren kann.
Sie erzählen unter anderem von Gentrifizierung und Existenzängsten. Wie sind Sie persönlich mit diesen Themen in Berührung gekommen?
Meyer: Während meines Studiums in London habe ich an unterschiedlichen Orten in teilweise ziemlich verarmten Gegenden gelebt. Die Begegnungen, die ich dort mit Nachbarn und vor allem mit Kindern hatte, haben mich für diese Themen und die teilweise harten Lebensrealitäten der Menschen um mich herum sensibilisiert und den Anstoß gegeben, noch weiter zu recherchieren. Aber natürlich kenne auch ich persönlich Existenzängste und Leistungsdruck sehr gut.
Koffler: Ich habe als Kind in Berlin hautnah miterlebt, wie mein Vater, ein vorher erfolgreicher Anwalt, nach der Wende beruflich einen extremen Absturz erlebt hat – und das als Vater von vier Kindern. Die Angst des Mittelstands, den Lebensstandard nicht halten zu können, und die große Sehnsucht, die eigene Situation noch mal verbessern zu können, halte ich für sehr erzählenswert.
Begleitet Sie die Angst vor dem Abstieg bis heute?
Koffler: Ich glaube, dass man solche prägenden Erlebnisse aus der Kindheit sein ganzes Leben lang mit sich rumträgt und bearbeitet. Dazu leben wir in einer Welt, in der es keine wirkliche Sicherheit mehr gibt. Eine Unternehmensberaterin, die auch mit vielen sehr reichen Managern zu tun hat, erzählte mir, dass, egal ob ihre Klienten nun eine Million im Plus oder eine Million im Minus sind, sie leiden unter derselben existenziellen Angst. Die Frage, wo dieser Druck herkommt, sogar bei den Gutverdienern, und welche Auswirkungen das auf die Familie hat, finde ich hochinteressant. Woran krankt unsere Gesellschaft, dass es gefühlt immer schwerer wird, Beruf und Familie zu vereinbaren?
Herr Koffler, Sie haben auf der Baustelle gearbeitet, um sich auf die Rolle von Rainer vorzubereiten. Was haben Sie gelernt?
Koffler: Ich war mit einer Truppe von Fliesenlegern unterwegs und vor allem erstaunt darüber, was dort für ein Ton herrschte. Wie sehr gekämpft wurde zwischen den unterschiedlichen Bereichen der Verantwortlichkeit, wie die Schuld für Fehler hin und hergeschoben wurde. Der Bauleiter, mit dem ich unterwegs war, ein sehr hilfsbereiter, herzlicher Mann, war nicht selten morgens schon auf 180. Er hatte mich beim ersten Treffen mit dem Satz begrüßt: „Was ihr da erzählt in eurem Film, das ist schon wie im richtigen Leben. Entweder Bauleiter oder Familie. Beides zusammen kannste vergessen.“ Seine eigene Familie war zerbrochen.
Gibt es da Parallelen zur Filmbranche? Auch dort sind die Arbeitsverhältnisse oft prekär, man ist sehr abhängig von der Gunst anderer, kann nie langfristig planen.
Meyer: Ich kenne die Situation gut, dass man zwischen drei Jobs hin und herspringen und immer an Türen kratzen muss, ständig mit der Sorge im Hinterkopf, dass sich keine neue auftut. Das war sehr lange Zeit meine Lebensrealität.
Wie lässt sich das mit einer Familie vereinbaren?
Meyer: Als Mutter kann ich auf jeden Fall sagen, dass die Vereinbarkeit von Kind und Beruf in der Branche schwierig ist und es ein ständiger Kampf bleibt, den Druck der Arbeit nicht an die eigenen Kinder weiterzugeben. Davon wollten wir auch im Film erzählen. Es gibt aber ein paar positive Entwicklungen. Ich kenne Kolleginnen, die eine Nanny mit am Set hatten, und es gibt sogar Produktionen, die versuchen 4-Tage-Wochen zu realisieren, was ein sehr familienfreundliches Modell wäre. Generell ist es jedoch noch ein weiter Weg. Wer heute keine privaten Möglichkeiten hat, Kinder betreuen zu lassen, zum Beispiel durch Großeltern, oder es sich nicht leisten kann, Unterstützung zu holen, hat es schwer, vor allem wenn man über Wochen in ein Projekt eingebunden ist, teilweise weit weg von zuhause.
Frau Meyer, Ihre Mutter ist Finnin: Hat das einen Einfluss darauf, wie Sie die deutsche Familienpolitik beurteilen?
Auf jeden Fall. Ich habe als Kind viel Zeit in Finnland verbracht, alle Ferien waren wir vom ersten bis zum letzten Tag dort. Das Land war immer auch eine kleine Utopie für uns, genau aus diesem Grund: Es ist familienfreundlicher, man wird viel mehr dabei unterstützt, das Berufliche und Private zu verbinden. Mal ganz abgesehen von anderen positiven Aspekten, zum Beispiel dem Gesundheitssystem. Finnland steht dieses Jahr erneut im Weltglücksbericht auf dem ersten Platz, und das spürt man, wenn man dort ist. Die Lebensqualität ist hoch, was sich in der Zufriedenheit und dem Optimismus der Menschen definitiv zeigt. Ich habe das Gefühl, dass diese Zufriedenheit auch der Grund für eine stabilere Gemeinschaft ist. Die Menschen in Finnland nehmen mehr Anteil am Schicksal des anderen und helfen einander. In Deutschland erlebe ich das nur bedingt. Trotzdem bin ich hier sehr glücklich und dankbar darüber, wie gut es uns geht. Momentan drehen Hanno und ich in Marseille, wo das Elend, die Obdachlosigkeit und die Armut vor allem von Kindern wirklich sehr bedrückend sind.
In Ihrem Film wird sehr deutlich, wie die Menschen den Leistungsdruck, den sie spüren, auch weitergeben. Der Bauleiter darf seine Tochter kaum noch sehen, nachdem die Familie an seinem Arbeitsalltag zerbrochen ist, und diesen Frust lässt er an seinen Angestellten aus. Der Vater eines Mädchens ist der Boss ihrer Freundin, das Machtverhältnis überträgt sich. Warum treten so viele Menschen nach unten, anstatt sich zusammenzuschließen?
Koffler: Als wir angefangen haben zu schreiben, wollten wir einen Film machen, in dem es um die Entstehung von Gewalt geht. Im kreativen Prozess haben wir für uns herausgefunden, dass es eigentlich um Druck geht. Dieser enorme, allgegenwärtige Leistungsdruck führt zu einem Mangel an Empathie und schreit gleichzeitig nach einem Ventil. In unserer Gesellschaft wird es belohnt, wenn man Leistung bringt und funktioniert, das gilt für alle Schichten. Viele Menschen geben diesen Druck dann entweder weiter oder zerbrechen daran. Ich frage mich, was für ein System man schaffen müsste, in dem es möglich wäre, miteinander vor allem menschlich zu bleiben. Ich glaube, wir müssen uns eingestehen, dass man im kapitalistischen Hamsterrad auf lange Sicht nur scheitern kann.
Rainers Frau wirft ihm irgendwann vor, selbst schuld oder zumindest mit schuld an seinem Abstieg zu sein. Wieviel Macht hat das Individuum im Kapitalismus?
Meyer: Ich glaube an die Kraft der Gemeinschaft, und ich würde mir wünschen, dass wir wieder mehr lernen, als Gemeinschaft zu funktionieren und weniger als Individuum nur am eigenen Strang ziehen. Kraft muss gebündelt werden, besonders, wenn man in einem System lebt, in dem der Einzelne durch ständigen Druck klein gehalten wird. Ich habe neulich in einer Studie gelesen, dass das kognitive Potenzial von Menschen durch Existenzangst unterdrückt wird. Sehr viele Menschen können also ihre Fähigkeiten nie ausschöpfen, weil es ihnen in dieser Gesellschaft unmöglich gemacht wird, angstfrei zu leben.
Der Film zeigt eine Abwärtsspirale, die sich relativ stringent bis zum Ende durchzieht. Haben Sie noch Hoffnung, dass sich in naher Zukunft etwas an den Lebensumständen der Menschen ändert?
Meyer: Ich glaube, als Mutter kann man nie wirklich Pessimistin sein. Die Hoffnung lebt in unseren Kindern, und so ist es auch für mich in unserem Film. Auch wenn es, besonders in der aktuellen Weltlage, schwer ist, möchte ich doch glauben, dass wir als Gesellschaft das Ruder noch mal rumreißen können.
