Fast hundert Jahre hat es gedauert, bis der deutsche Roman „Im Westen nichts Neues“, in dem Erich Maria Remarque 1928 seine Erfahrungen als Soldat an der Westfront im Ersten Weltkrieg verarbeitete, von einem deutschen Filmemacher verfilmt wurde. Die amerikanische Adaption von Lewis Milestone gewann 1930 den Oscar für den besten Film und die beste Regie, doch den Nazis war die Antikriegserzählung ein Dorn im Auge. Erst wurde der Film für den deutschen Markt um 53 Minuten gekürzt und schließlich nach organisierten Krawallen seine Vorführung ganz verboten. Warum Edward Berger die filmische Perspektive aus Deutschland für wichtig hält, an welchen Stellen er vom Roman abweichen wollte und ob er seinen Film für die Kinoleinwand gedreht hat, erzählt der Regisseur im Interview.
Herr Berger, warum haben Sie gerade jetzt diesen Film gedreht?
Zum einen waren es äußere Umstände. Es bietet sich natürlich nicht so häufig die Möglichkeit, einen Film mit diesem Ausmaß anzugehen. Dass eine deutsche Produktion die Rechte an so einem Buch erwirbt, kommt selten vor, weil amerikanische oder englische Produktionsfirmen natürlich aufgrund der Sprache einen viel größeren Markt haben. Durch die Streamer spielt die Sprachbarriere aber kaum noch eine Rolle. Hinzu kam: Mein Produzent Malte Grunert und ich hatten vor zweieinhalb Jahren, als wir die Entscheidung für oder gegen den Film treffen mussten, das Gefühl, dass in vielen Ländern ein neuer Nationalismus und Patriotismus aufkam. Seitdem sitzen in unseren Parlamenten wieder Neofaschisten. Eine Institution wie die EU, die dem Kontinent eine sehr lange Phase des Friedens beschert hatte, wurde plötzlich durch Demagogen und Populisten infrage gestellt. Der Diskurs, die Art der Sprache haben sich verändert, politisch und privat, ich habe die Menschen als immer aggressiver und polemischer wahrgenommen. In diese Stimmung hinein einen Film zu machen, der darauf hinweist, wohin diese Stimmung vor hundert Jahren schon mal geführt hat, kam mir sinnvoll vor.
Erich Maria Remarques Roman wurde schon zweimal von Amerikanern verfilmt, Sie liefern nun die erste Adaption aus Deutschland. Welche Bedeutung hat das für Sie?
Ich halte es für wichtig, denn als Deutsche haben wir ja eine ganz andere Perspektive auf diesen deutschen Roman, der Teil unseres literarischen Kanons ist. In Kriegsfilmen aus Amerika oder England werden meistens Heldengeschichten erzählt. Amerika ist in den Krieg gedrängt worden, gegen seinen Willen, und hat Europa im Zweiten Weltkrieg vom Faschismus befreit. England wurde angegriffen und hat sich verteidigt. Dort zogen Männer in den Krieg und gewannen. Viele konnten sich mit dem, was sie getan hatten, deshalb später irgendwie versöhnen, weil ihnen verziehen wurde, man sie sogar feierte.
In Deutschland kann man solche Heldengeschichten natürlich nicht erzählen. Wir sind alle aufgewachsen mit dem Erbe unserer schrecklichen Vergangenheit. Ich persönlich empfinde deshalb auch eine Schuld, Verantwortung, Scham und Trauer. Das tragen wir auf unseren Schultern und in unseren Körpern. Jede Entscheidung, die ich für den Film getroffen habe, egal ob es um die Beleuchtung, das Kostüm, die Maske oder die Kameraposition ging, ist davon beeinflusst. So ist am Ende, hoffentlich jedenfalls, automatisch ein ganz anderer Film entstanden, als ein Amerikaner oder Engländer aus dem Stoff gemacht hätte. Und ich denke, das könnte für Menschen in anderen Ländern interessant sein.

Haben Sie damit gehadert, Soldaten, die leidenschaftlich, oder zumindest unkritisch, für die Täternation kämpfen, als Figuren mit Identifikationspotenzial zu zeigen?
Natürlich. Es ist ein Thema, über das man unbedingt sprechen muss. Es ist sicher ein bisschen einfacher, über den Ersten Weltkrieg als über den Zweiten zu erzählen, aus dem ein noch viel größeres Grauen hervorging. Ich finde aber, dass der Roman, und hoffentlich auch unser Film, eindringlich zeigen, wie junge Menschen von Demagogen manipuliert werden und mit Begeisterung in den Krieg ziehen, um dort dann festzustellen, dass alles auf Lügen basiert. Das ist heute nicht anders, wir sehen es in diesen Tagen in Russland, wo Propaganda und Zensur einen ähnlichen Effekt haben wie vor hundert Jahren in Deutschland.
Ein zentraler Aspekt von „Im Westen nichts Neues“ ist, dass ein Soldat nach dem Krieg nie wieder der Mensch sein kann, der er vorher war. Bei Remarque geht der Protagonist Paul Bäumer irgendwann auf Heimaturlaub, dort wird das besonders deutlich. Diese Szenen gibt es im Film nicht. Wieso haben Sie darauf verzichtet?
Ich hätte das sehr gerne gezeigt, aber dann wäre es wahrscheinlich ein vierstündiger Film geworden. Ich versuche, dieses Gefühl über neue Szenen zu erzählen, etwa wenn die Soldaten Post von zu Hause bekommen und deutlich wird, dass die Sehnsucht nach dem Leben, wie es einmal war, vergeblich ist, weil es dieses Leben nicht mehr gibt. Die Entscheidung hatte aber auch damit zu tun, dass wir einen neuen Erzählstrang aufgenommen haben, den es bei Remarque nicht gab, nämlich die politischen Verhandlungen zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien über einen Waffenstillstand. Das war für mich sehr wichtig, denn das Buch wurde in den Zwanzigerjahren aus dem Zeitgeschehen heraus geschrieben. Das ist aber mittlerweile alles vom Zweiten Weltkrieg überschattet. Deshalb wollte ich aus unserer heutigen Perspektive ein Schlaglicht werfen auf das, was da noch kommen wird. Denn leider war der Erste Weltkrieg ja erst der Anfang eines noch viel größeren Grauens.
Mit welchen Gedanken sind Sie an die Inszenierung der Gewalt im Film herangegangen?
Ich wollte einen Film machen, der den Zuschauer physisch packt. Ihn am Kragen mit Paul Bäumer durch den Film reißt, ihm auch eine Faust in die Eingeweide rammt, bis zum physischen Unwohlsein. Vielleicht wird es manche geben, denen das zu viel ist und die deshalb aussteigen. Ich hatte aber viel größere Bedenken, irgendetwas weichzuspülen, Dinge zu beschönigen. Diese Gewalt für den Zuschauer so erfahrbar wie möglich zu machen, sodass der Film fünf Minuten, eine Stunde oder vielleicht sogar eine ganze Nacht nach dem Abspann noch wirken kann, das war das Ziel. Auch Remarques Sprache ist übrigens extrem brutal. Gleichzeitig, und das ist ein schmaler Grat, habe ich versucht, mit der Kamera beobachtend zu bleiben, nicht zu stark zu manipulieren, nicht auf die Tränendrüsen zu drücken, sodass die Zuschauer sich sofort in die Gefühligkeit gedrängt fühlen. Eine gewisse Distanz wollte ich bewahren, um den Zuschauern genügend emotionale Freiheiten zu lassen. Ich habe versucht, immer einen Hauch weiter wegzubleiben, als man es vielleicht gewohnt ist.

Wenn man durch einen Produktionspartner wie Netflix so viel Geld im Rücken hat und theoretisch jede Szene genau so herstellen kann, wie man es sich beim Schreiben vorstellt, auch indem man digital nachhilft: Wie beeinflusst das die Inszenierung?
Natürlich hätten wir zum Beispiel alle Explosionen digital herstellen können. Was sich dann aber verändert, ist die Interaktion des Schauspielers mit seinem Umfeld, das Licht, die Partikel in der Luft, die plötzlich vor die Sonne fegen, das kann man digital nicht herstellen. Insofern ist es für mich wichtig, einen Großteil schon vor Ort zu kreieren. Schon beim Dreh will ich alles glauben, was ich durch die Kamera sehe. Ob man dann hinterher in der Ferne noch ein paar Explosionen einfügt, ist eigentlich gar nicht mehr wichtig. Im Übrigen hat auch unser Film keine unbegrenzten Mittel. Netflix ist kein Selbstbedienungsladen, bei dem man alles bekommt, was man will. Filmemachen hat immer auch mit einer Ökonomie der Mittel zu tun, für jeden von uns und überall.
Mein Blick aufs Filmemachen hat sich in meiner Laufbahn sehr verändert. Als Dogma aufkam, fand ich diese Bewegung spannend, die Vorstellung, das „Echte“, die absolute Realität einzufangen, erschien mir extrem attraktiv. Aber auch das ist natürlich gelogen, am Ende ist alles gedrehte Material hergestellt und manipulativ. Diese Herstellung umarme ich mittlerweile bis ins kleinste Detail. Wenn Special Effects, Make-up, Ausstattung, Kamera, einfach alle Gewerke in genauer Planung und Abstimmung ihren Teil dazu beitragen, dass das Bild am Ende authentisch wirkt.
Aus diversen Gründen erfüllt der Film die Kategorie „für die große Leinwand gemacht“. Denken Sie noch in solchen Kategorien?
Nein, ich glaube, die Zeit ist vorbei. Natürlich hat dieser Film, bei all seiner Intimität, die wir zwischen den Protagonisten erzählen wollten, eine Epik und Größe, die von der Leinwand profitiert. Aber Netflix hat auch in der Vergangenheit schon große „Kinofilme“ wie „Roma“ oder „The Irishman“ produziert. Und am Ende wird „Im Westen nichts Neues“ wahrscheinlich in viel mehr Kinos, in viel mehr Ländern laufen als fast alle anderen deutschen Filme, die nicht von Streamern produziert wurden. Weil Netflix, als mittlerweile eins der größten Studios der Welt, einfach eine riesige Marketing-Macht hat. Dafür bin ich wahnsinnig dankbar.
„Im Westen nichts Neues“ läuft in Deutschland vier Wochen lang im Kino, bevor er bei Netflix verfügbar ist. Abonnenten werden den Film wahrscheinlich überwiegend auf dem Fernseher oder iPad anschauen.
Das ist die brutale Realität. Leider ziehen die wenigsten Filme noch viele Menschen ins Kino. Aber als Filmemacher können wir dem nur entgegenwirken, indem wir versuchen, besondere Filme und außergewöhnliche Geschichten zu erzählen, die sie aus ihren Sesseln treiben.
Die Kinobetreiber stehen unter anderem auch unter Druck, weil die Streamingfirmen das exklusive Zeitfenster, in dem ein Film nur auf der Leinwand zu sehen ist, infrage stellen – es, wie in diesem Fall, verkürzen oder auch gar nicht einhalten wollen. Machen Sie sich Sorgen, dass das Kino als Ort an Bedeutung verliert oder irgendwann ausstirbt?
Ich liebe das Kino! Wir sperren die Zuschauer in einen dunklen Raum und entführen sie für zwei Stunden in eine andere Zeit und andere Welt. Wo gibt es das sonst? Aber man muss auch realistisch sein. Wir hätten den Film niemals, zumal in der Pandemie, auf andere Art herstellen können. Netflix war von allen potenziellen Partnern, und ich muss das wirklich nicht sagen, am enthusiastischsten, am hartnäckigsten, am passioniertesten. Die Wahl ist also: Entweder man macht den Film und viele Menschen auf der Welt sehen ihn – sehr viele im Kino aber natürlich noch mehr daheim – oder sie sehen ihn gar nicht.


