Wie groß der Schaden tatsächlich war, den der Spiegel-Reporter Claas Relotius anrichtete, indem er zehn Jahre lang gefälschte Texte in diversen großen Publikationen veröffentlichte, wird nicht abschließend festzustellen sein. Unbestritten ist, dass der Fall ein gefundenes Fressen für medienkritische Menschen und Parteien war, die sich dadurch in ihrem Glauben an die Lügenpresse bestätigt sahen: Typisch Presstituierte, endlich ist mal einer von denen aufgeflogen.
Dass die Causa Relotius das Vertrauen der Übrigen messbar beeinflusst hat, dafür gibt es allerdings bislang keine stichhaltigen wissenschaftlichen Hinweise. Laut einer Langzeitstudie der Universität in Mainz ist die Anzahl der Deutschen, die den Medien vertrauen, von 2018, als Relotius enttarnt wurde, bis 2020 um zwölf Prozent auf 56 gestiegen. Zum Vergleich: In Amerika sind es 23 Prozent.
Mit Blick auf die nachwachsende Generation ist allerdings auch in Deutschland eher nicht zu erwarten, dass dieser Wert stabil bleiben oder auf lange Sicht gar weitersteigen wird, denn die heranwachsende Generation hat für die Medien nicht mehr viel übrig: Fast 76 Prozent der Jugendlichen bis 16 Jahren misstrauen den Zeitungen, zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie der Universität Bielefeld. In dieser Situation kommt nun ein Film ins Kino, der den Fall Relotius als nette Komödie erzählt.
„Das meiste haben wir uns allerdings ausgedacht“
Zwar behauptet der Film „Tausend Zeilen“ nicht, den Skandal realitätsgetreu wiederzugeben: „Vieles ist so passiert, das meiste haben wir uns allerdings ausgedacht. Ganz ehrlich!“, heißt es eingangs. Doch natürlich ist allen klar, um welche Geschichte es hier geht, und die Eckpunkte stimmen.
Aus Claas Relotius wird im Film Lars Bogenius (wohl angelehnt an das englische „bogus“ für Schwindel), gespielt von Jonas Nay, er ist Starreporter des fiktiven Wochenmagazins „Die Chronik“. Elyas M’Barek gibt Juan Romero, der im echten Leben Juan Moreno heißt und derjenige war, der Relotius enttarnte. Im Film geschieht das ziemlich genau so, wie es Moreno auch in seinem Buch „Tausend Zeilen Lüge: Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ 2019 schon beschrieben hat.
„Chronik“-Star Bogenius, der bald die Leitung des Ressorts Gesellschaft übernehmen soll, und der freie Journalist Romero werden beauftragt, je einen Teil einer langen Reportage über die Flüchtlingsbewegung von Mexiko in die USA zu schreiben. Romero bemerkt in der Recherche seines Kollegen zahlreiche Unstimmigkeiten, doch bei seinem Auftraggeber stößt er damit auf Empörung. Alle lieben den „netten Lars“, der schon so viele Preise gewonnen hat, sich um seine kranke Schwester kümmert und den Kollegen bei der Dokumentation immer Kekse mitbringt. Romero sei doch sicher nur neidisch. Doch der Vater von vier Töchtern beißt sich fest. Er will die Sache nicht auf sich beruhen lassen, recherchiert auf eigene Faust, aus eigener Tasche, auf Kosten seines Privatlebens. Irgendwann schreit er seine Kinder an, vergisst auch mal eins von ihnen im Bus. Diese Szene stammt nicht aus Morenos Buch.
Der Fisch stinkt vom Kopf her
Herbigs Entscheidung, Bogenius zur diffusen Randfigur zu machen, zum betrügerischen Phantom, ohne den Anspruch, tatsächlich etwas über „den Mensch Relotius“ zu erzählen, ist zu begrüßen. Ob der Ex-Journalist in der Realität tatsächlich unter ernst zu nehmenden psychischen Krankheiten leidet, wie es Relotius in seinem 26 Seiten langen Interview, das im vergangenen Juni im Magazin Reportagen erschien, andeutete, können Außenstehende nicht beurteilen. Ob man ausgerechnet diesem Mann noch glauben möchte, ist jedem selbst überlassen. Letztendlich spielt es auch keine Rolle, zumindest für die Bedeutung des Falls im größeren Zusammenhang der internationalen Presselandschaft.
Warum Relotius so viele Preise bekam, warum sein journalistischer Schreibstil bei den Lesern so viel Anklang fand und warum er damit so lange durchkam, das waren von Anfang an die entscheidenden Fragen. Im Film werden sie zaghaft angedeutet, verpuffen aber letztlich im dramaturgischen Wohlfühl-Schema, das auch Relotius so schön beherrschte.
Dass der Fisch bei der „Chronik“ vom Kopf her stinkt, daran bleibt in „Tausend Zeilen“ kein Zweifel. Jörg Hartmann und Michael Maertens spielen schmierige Bogenius-Förderer, denen es vor allem um die eigene Karriere geht. Den leitenden „Spiegel“-Journalisten Matthias Geyer und Ulrich Fichtner, deren Verantwortung nach dem Skandal intern untersucht wurde – Matthias Geyer ging gerichtlich gegen seine Kündigung vor –, dürfte die Darstellung sauer aufstoßen. Die ihnen nachempfundenen Figuren im Film mauscheln auf Golfplätzen herum, führen Mitarbeiter vor, die sachlich von Parteitagen berichten wollen, fordern Texte mit Dramaturgie und „emotionaler Wahrheit“. Herbig degradiert sie zu singulären Witzfiguren, und mit dem Triumph des Moralreporters über sie ist die Ordnung am Ende wiederhergestellt. Woran der Journalismus tatsächlich krankt, dass es Systemisches zu kritisieren, oder, um im gewählten Genre zu bleiben, zu veralbern gibt, darauf gibt der Film keine Hinweise.
Inwieweit die eigene Betroffenheit bei der Themenwahl und Berichterstattung auf die Leser projiziert wird, das müssen sich Journalisten bei ihrer Arbeit immer fragen. Und so wird sich der sogenannte Durchschnittsleser wohl auch nicht annähernd so sehr vom Fall Relotius und nun diesem Film anfassen lassen wie der Durchschnittsjournalist. Doch dass, wie es der Fälscher vielleicht versuchte, zumindest aber seine Vorgesetzten es aus seinen Texten herauslasen, Großes im Kleinen erzählt wird, dürfen alle Zuschauer von einer guten Geschichte erwarten. Genau wie die Offenlegung, dass es in der Welt meistens nicht leicht verständlich zugeht. Ansonsten wird es, wie in diesem Film, vielleicht trotzdem unterhaltsam, aber letztendlich belanglos.


