Berliner Zeitung: Monsieur Ozon, sechs Ihrer Filme liefen auf der Berlinale. „Peter von Kant“ war dieses Jahr Eröffnungsfilm. Sie waren auch schon in der Berlinale-Jury. So oft, wie Sie hier sind: Fühlen Sie sich schon als Berliner?
François Ozon: So weit würde ich nicht gehen. Ich bin durch und durch Pariser. Aber klar doch bin ich gerne in Berlin. Als ich zum ersten Mal hier war, stand noch die Mauer. Da war ich 17 oder 18 – und bin auch in den Osten der Stadt rübergefahren.
Was empfinden Sie als die größten Unterschiede zwischen Paris und Berlin?
Das klingt jetzt sehr simpel, aber: Berlin wurde im Zweiten Weltkrieg viel stärker zerstört. Paris galt als die schönste Stadt der Welt. Da war man wohl gnädig. Das hat Folgen für die beiden Städte, bis heute. Und das unterscheidet sie doch stark.
Apropos Unterschiede: Worin lag für Sie der Reiz, mit „Peter von Kant“ ein Fassbinder-Remake zu machen, das Gemeinsamkeiten, aber doch auch große Unterschiede zum Original aufweist?
Ich glaube nicht, dass ich ein Remake gemacht habe. Das Original ist ein Meisterwerk und steht für sich. Mich hätte das nicht interessiert, ein Remake zu machen von „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“. Was mich hingegen interessiert: eine andere Vision dieser Geschichte anzubieten. Ein bisschen wie ein Theaterregisseur, der sich einen Klassiker vornimmt, einen Tschechow oder einen Shakespeare oder auch ein Stück von Molière – und der sich dann die Freiheit herausnimmt, einen frischen Blick auf diesen Klassiker zu werfen. So wollte ich das machen.
Steht Fassbinder für Sie auf einer Stufe mit Shakespeare?
Nein, das sicher nicht. (lacht) Das ist nicht das Gleiche. Aber auch „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ wurde ein Klassiker. In Frankreich jedenfalls. Er wird viel im Theater gespielt. An Schauspielschulen nimmt man oft Fassbinder-Texte als Training. Nicht auf einem Level mit Shakespeare oder Goethe. Aber ein sehr starker Text ist „Petra von Kant“ ganz sicher.
Petra von Kant im Original ist eine Modemacherin. Ihr Peter von Kant ist Filmregisseur. Warum diese Änderung?
Ich habe schon lange den Eindruck, dass Fassbinder via Petra von Kant eigentlich von sich selbst erzählt. Petra ist quasi Fassbinder. Ich habe mit Juliane Lorenz, der letzten Partnerin von Fassbinder, gesprochen. Sie hat mir bestätigt, dass Fassbinder in „Petra von Kant“ sein Verliebtsein in Günther Kaufmann verarbeitet hat, der auch einer seiner Schauspieler war. Ich wollte in meiner Version also keine Modemacherin, denn die Mode interessiert mich so gar nicht.
Aber Sie waren doch mal Model, oder?
Ich? Ja, aber nur als Kind. Jedenfalls wollte ich die Geschichte etwas näher an mich heranrücken. Und da ich nun mal Regisseur bin, war das mein Weg, von mir selbst zu erzählen. Aber auch von Fassbinder und vom Kino. Und auch von den Hierarchien, die beim Filmemachen existieren.
Fassbinder erzählt durch Petra von sich selbst. Darin liegt doch auch ein Reiz, dass er das so versteckt tut. Warum wollten Sie es denn so offensichtlich tun? Denis Ménochet, der Peter von Kant spielt, erinnert im Film ja sogar optisch sehr an Fassbinder.
Ich wollte einen neuen Blick auf diesen Text. Weil ich glaube, dass die Geschichte, die er erzählt, universell ist. Deshalb meine Änderungen bei den Figuren. Und ich wollte auch von Arbeit erzählen. Denn der Film erzählt ja von Liebe. Und für Fassbinder war auch die Liebe zu seiner Arbeit enorm. Die Liebe fürs Kino ist entscheidend für sein Leben.
Manche Dialoge haben Sie 1:1 von Fassbinder übernommen. Dann gibt es in Ihrer Version aber auch ganz neue Szenen, in denen gefilmt wird. Dreharbeiten innerhalb des Films. Was hat Ihnen mehr Spaß gemacht? Die Momente, in denen Sie sehr nah mit dem Original spielen? Oder die, in denen Sie sich weiter wegbewegen?
Sie treffen den Nagel auf den Kopf: Ich selber wollte Spaß haben. Deshalb hab ich mir viele Freiheiten genommen. Juliane Lorenz meinte, Fassbinder hätte geliebt, was ich da veranstaltet habe mit seinem Stoff. Ich wollte keine Kopie. Und vergessen Sie nicht: Ich blicke aus französischer Sicht auf dieses deutsche Stück. Das ist vielleicht etwas sonderbar, aber das wollte ich. Ich glaube, dass Franzosen und Deutsche unterschiedlich auf den Film blicken werden. Zum Glück.
„Begehren ist gewaltiger als Liebe“
Sie sagen, der Film sei universell. Auch in einem Ihrer vorherigen Filme, „Sommer 85“, geht es um eine schwule Liebesgeschichte, die anfangs perfekt erscheint, aber dann daran zerbricht, dass einer der beiden das Interesse verliert. Ist das Ihre Sicht auf die Liebe?
Ich würde sagen, dass weder „Sommer 85“ noch „Peter von Kant“ von Liebe erzählen. Sondern von Leidenschaft. Begehren ist stärker und gewaltiger – aber endet immer auch tragisch. Liebe ist etwas Ruhigeres. Peter von Kant verliebt sich in Amir. Er ist ganz verrückt nach ihm. Erst am Ende versteht er: Lieben besteht eben gerade nicht darin, jemand besitzen zu wollen. Und Sie haben recht, die Konstellation in „Sommer 85“ kommt der von „Peter“ bei allen Unterschieden doch sehr nah: Auch Alexis in „Sommer 85“ will David zunächst besitzen. So wie Peter Amir besitzen will. Aber das ist keine Liebe. Liebe geht nur auf Augenhöhe.
Wie haben Sie das gemacht, dass Peter in einigen Szenen so charmant ist – nur um dann wieder zum Tyrann zu werden?
Für mich hat das auch einen komischen Aspekt. Peter ist schon over the top. Eine richtige Drama-Queen! Margit Carstensen spielt ihre Petra von Kant im Original ja auch schon in diese Richtung: Manchmal wirkt sie lächerlich und zugleich berührend. Da muss man als Schauspieler viele Register ziehen.

„Nach #metoo blickt man anders auf den Fassbinder-Text“
Sie sagen, Sie wollten von Peter als Filmemacher erzählen, da das die Welt ist, die Sie kennen. Haben Sie dabei auch über Machtgefälle nachgedacht? Macht, die man als Regisseur hat?
Ja, absolut, das interessiert mich sehr: den Text noch mal neu darauf zu befragen, was er über Dominanz zu sagen hat; über Hierarchien, die in der Welt des Kinos existieren. Nach dem Fall Harvey Weinstein und dem Aufkommen von #metoo blickt man auf den Fassbinder-Text noch mal anders. Der Text hat mir dabei geholfen, über diese Hierarchien, die schon wichtig sind, neu nachzudenken. Zu Beginn des Films hat Peter von Kant die Macht: Er ist reich und berühmt. Als Straßenverkäufer hätte er Amir ein solch luxuriöses Leben nicht bieten können. Diese Dynamiken interessieren mich.
Und was haben Sie dabei über sich selbst gelernt?
Oh, das kann ich nicht so genau festmachen. Ich lerne ständig dazu durch Filme. Ich wollte mich übrigens über die Position des Regisseurs auch etwas lustig machen. Es stimmt schon, dass ein Regisseur gewissermaßen der Gott des Films ist. Nutzt er diese Position, um andere zu demütigen, so wie Fassbinder es auch tat? Oder sucht er die Zusammenarbeit? Ich denke, man kann heutzutage nicht mehr so arbeiten, wie Fassbinder es tat.
„Die Idee vom zerstörerischen Genie hat sich erledigt“
Trauern Sie dem nach?
Nein, überhaupt nicht. Niemand hat das Recht, ein Sadist zu sein; andere herabzuwürdigen. Man kann arbeiten in Harmonie, auf Augenhöhe. Ich mag Konflikte gar nicht. Ich finde, auch als Regisseur sollte man mit Menschen normal umgehen. Die Idee vom zerstörerischen Genie hat sich erledigt. Das geht so nicht mehr. Das hat die Gesellschaft verstanden – und akzeptiert das deshalb auch nicht mehr.
Ihre Filme wurden oft mit denen von Fassbinder verglichen – aber auch mit jenen von Pedro Almodóvar. Ein ziemlicher Kontrast. Sind Ihnen beide Pole gleich wichtig?
Sagen wir mal so: Fassbinder war mir schon wichtiger. Ich liebe die Reichhaltigkeit seiner Werke. Auch, wie er von der deutschen Gesellschaft erzählt hat. Das berührt mich mehr.
Wir haben vorhin über die Ähnlichkeit von „Sommer 85“ (2020) und „Peter von Kant“ gesprochen. Beide wirken sehr persönlich. „Gelobt sei Gott“ (2018) über Missbrauch in der Kirche und „Alles ist gutgegangen“ (2021) über Sterbehilfe scheinen eine stärker politische Agenda zu verfolgen. Gibt es diese beiden Kategorien in Ihrem Werk?
Wenn Sie es so sehen: Sie können sagen, was Sie wollen! (lacht) Ich autoanalysiere meine Arbeiten nicht. Aber es stimmt schon: Oft sind meine Filme ein gewisser Konter zum jeweiligen Vorgänger. Ich habe einen sehr offenen Geschmack. Ich mag das Kino in vielen Formen. Die Kritiker verwirrt das manchmal, dass ich nicht immer denselben Themen treu bleibe. Aber ich versuche eben auch, mich nicht zu wiederholen.
Noch mal zur Agenda: Dass das Thema Missbrauch in der Kirche nun stärker diskutiert wird, ist doch schon in Ihrem Sinne, oder nicht? Daran hatte der Film in Frankreich seinen Anteil.
Mit „Gelobt sei Gott“ wollte ich einen Film machen über Männer, die weinen. Das war meine Ausgangsidee. Dann hab ich die passende Geschichte gefunden. Ich habe gelesen darüber, was Schlimmes in Kirchen passiert ist. Als Katholik hat mich das sehr getroffen. Aber als ich am Film gearbeitet habe, habe ich nicht darüber nachgedacht, dass er ein Politikum werden könnte. Das kam erst später – als die katholische Kirche in Frankreich versuchte, den Kinostart des Films zu verhindern. Aber das war nicht mein Ziel.
Sie wollten keinen Skandal auslösen?
Vielleicht doch, aber nur unbewusst. (lacht)
Viele Ihrer Filme haben Vorlagen: Romane, Memoiren, Theaterstücke. Mit „Tropfen auf heiße Steine“ (2000) haben Sie sogar schon mal Fassbinder adaptiert. Was war diesmal anders bei „Peter von Kant“?
„Tropfen auf heiße Steine“ hat Fassbinder mit 19 geschrieben. Zu seinen Lebzeiten blieb es unveröffentlicht. Ich hatte da also mehr Freiheiten. Diesmal war es komplizierter. Die Leute kennen den Fassbinder-Film. Er ist ein Klassiker des Kinos. Es ist also gefährlicher, damit was zu machen. Es gibt gewisse Fassbinder-Ajatollahs, die meinen Film hassen – weil ich es gewagt habe, mir den Text anzueignen. Aber ich wollte eben eine neue Version.
„Das ist keine Frage des Geldes“
Mussten Sie dazu eine Lizenz einholen?
Ja, ich hab die Rechte gekauft. Ich habe mit Juliane Lorenz, der Witwe von Fassbinder, gesprochen. Sie hält die Rechte der Fassbinder-Texte. Und sie hat meine Version des Textes akzeptiert.
Mussten Sie die Änderungen im Einzelnen mit ihr abstimmen?
Nein, da war ich frei.
Sie haben genug Geld auf den Tisch gelegt?
Nein, das ist keine Frage des Geldes. Juliane Lorenz wurde eine Freundin von mir. Schon bei „Tropfen auf heiße Steine“ hatten wir miteinander zu tun. Ich weiß, dass sie meine Arbeiten mag – und dass sie meine künstlerische Freiheit respektiert. Es ist ihr ein ganz wichtiges Anliegen, dass die Werke Fassbinders weiterleben. Und wir beide hoffen auch, dass der Film jüngeren Leuten den Zugang zu Fassbinder eröffnet.
Hanna Schygulla spielte schon in „Petra von Kant“ mit – und nun auch in Ihrem „Peter von Kant“.
Das war ein Traum von mir, mit ihr zu arbeiten. Sie spielt ja auch schon in meinem Film „Alles ist gutgegangen“. Diesmal spielt sie Fassbinders Mutter. Die beiden kannten sich sehr gut. Hanna kann also sehr gut ihre Herzlichkeit darstellen. Das hat mich sehr berührt. Auch wie sie im Original die Karin spielt. Und das ist sehr selten in der Filmgeschichte, dass jemand im selben Stoff eine andere Rolle übernimmt.
Hanna Schygulla taucht ziemlich zum Ende des Films auf. Warum rastet Peter dann eigentlich so sehr aus? Warum verliert er die Beherrschung vollständig?
Das habe ich ja nicht erfunden. Das steht schon bei Fassbinder im Text. Aber ich denke, er hat stets die Heuchelei in der deutschen Gesellschaft gehasst. Alle anwesenden Personen in der Szene sind sehr selbstgerecht. Peter hat den Eindruck, dass er nicht für das geliebt wird, was er ist – sondern für das, was er repräsentiert. Die Schauspielerin Sidonie, gespielt von Isabelle Adjani, will bloß eine Rolle bei Peter ergattern. Die Mutter möchte sich bei Peter Geld abholen. Und die Tochter sucht eine Liebe, die er ihr nicht geben kann. Und vergessen Sie nicht: Peter hat zu dem Zeitpunkt schon viel gekokst und viel Gin Tonic gebechert. Er ist wahnsinnig unglücklich wegen Amir. Ein explosiver Cocktail!
Peter hat diese gigantischen Porträts von Amir in seinem Luxusapartment hängen. Aber er beschließt gegen Ende hin, ihn nicht wiederzusehen. Wie passt das zusammen?
Insofern: Peter hat gelernt, dass Liebe nicht Besitz heißt. Das ist die Lektion seiner Geschichte. Doch durch das Kino kann er Amir doch behalten: Er besitzt die Bilder von Amir. Aber nicht den Körper. Das wollte ich auch mit der letzten Szene zeigen: Er betrachtet die Bilder von Amir, der doch nicht wiederkommen wird.
Also doch ein Happy End?
So ist es.
