Kulturtipps

Hier müssen Sie am Wochenende in Berlin hin: Tipps der Kulturredaktion

Wir haben die Eventkalender durchforstet. Diesmal können Sie verbotenes iranisches Kino sehen, den Rio-Reiser-Platz feiern und etwas über Abolitionismus lernen.

Wochenend-Tipps der Kulturredaktion
Wochenend-Tipps der KulturredaktionUroš Pajovic

Musik: Boy Harsher spielen im Astra Kulturhaus

Boy Harsher ist kein Boy. Und auch keine Boyband. Nein, Boy Harsher sind quasi Depeche Mode fürs dritte Jahrtausend. Harsch klingen können sie durchaus, aber im besten Sinne. Boy Harsher, das Electro-Pop-Duo von der Ostküste der USA, pflegen eine düstere, aber absolut melodische Ästhetik. Ja, mit den Ecken und Kanten und Widerhaken, die man bei Depeche Mode schon seit langem vermissen kann. Wenn Sängerin Jae Matthews über dem sehr tanzbaren Synthie-Fundament von Augustus Muller verhuscht über psychische Abgründe singt – dann erreicht das auch ein junges hippes Publikum, das in den 1980ern (auf denen diese Sounds basieren) nicht mal im Kindergarten war.

Auch im Remix-Game sind Boy Harsher gut unterwegs: Sie selbst haben etwa den Song „Your Body Changes Everything“ geremixt, mit dem Perfume Genius gerade erst am Dienstagabend sein Konzert im Schöneberger Metropol eröffnet hat. Und umgekehrt wurde der Boy-Harsher-Track „Come Closer“ schon von unserem Berliner Berghain-Resident-DJ Marcel Dettmann mit einem Remix gewürdigt. Boy Harsher betreiben übrigens ein Label namens Nude Club. Und etwas Nacktheit im Club kann man sich auch gut zu ihren Sounds vorstellen – etwa, wenn wir am Sonntag im Astra auf ihre Disco-Noir-Tracks abgehen, als würden wir auf Scherben schlittern. Stefan Hochgesand

Astra Kulturhaus, Revaler Straße 99, Sonntag, 21. August, 20.30 Uhr


Schottisches in Dahlem: die Europäischen Kulturtage im MEK

Schottland ist zu Gast in Berlin Dahlem. Die 18. Europäischen Kulturtage im Museum Europäischer Kulturen (MEK) mit vielen Veranstaltungen samt der Sonderschau „Document Scotland: Ansichten aus einem Land im Wandel“ dürften Kenner des Landes freuen und alle, die noch nie dort waren, staunen lassen. Denn der nördlichste Landstrich der britischen Insel mit grandiosen Städten wie Edinburgh und Glasgow ist weit mehr als das Klischee besagt: eben nicht bloß Highlands, Whisky, Dudelsäcke und Männer in Karo-Kilts und Kniestrümpfen.

Auch das ist schottischer Alltag für Mensch und Tier: „Carianne treibt das Vieh, Vallay, North Uist im, Juni 2018“ aus der in der Ausstellung zu erlebenden Fotoserie „Drawn To the Land“ von Sophie Gerrard.
Auch das ist schottischer Alltag für Mensch und Tier: „Carianne treibt das Vieh, Vallay, North Uist im, Juni 2018“ aus der in der Ausstellung zu erlebenden Fotoserie „Drawn To the Land“ von Sophie Gerrard.Sophie Gerrard/MEK/SMB

Repräsentativ sind auch keineswegs nur Loch Ness und Sean Connery. Die rau-schöne Landschaft, in der einst die legendäre Maria Stuart regierte, hat neben selbstbewussten und gern gegenüber dem Empire rebellischen, nach Unabhängigkeit und vor allem zurück in die EU strebenden Leuten eine reiche Kultur und Geschichte zu bieten, dazu eine vitale Musik- und Kunstszene. Trutzige Clanburgen und stille Lochs bestimmen die Berglandschaft der Highlands, romantische Abteiruinen schmiegen sich in die sanften grünen Hügel der Lowlands, Steinkreise und Gräber sprenkeln die Inselarchipele. Die Schotten haben ein tief in der Geschichte verwurzeltes Nationalgefühl. Man sollte sie also bloß nicht als Engländer bezeichnen. Ingeborg Ruthe

MEK (Museum Europäischer Kulturen), Arnimallee 25, Dahlem, eröffnet am 19.8, Sa./So. 11–18/Di.–Fr. 10–18 Uhr, bis 22. November


Open Air: „Linie 1“ restauriert und mitsingtauglich

Sunnie kommt aus der Provinz nach Berlin und sucht den Musiker, der versprochen hat, auf sie zu warten. Und dann irrt sie durch die Stadt, immer wieder mit der U-Bahn, trifft die Wilmersdorfer Witwen und das lebensmüde Mädchen, wird begafft und mit Ratschlägen überschüttet. „Fahr mal wieder U-Bahn!“ ist nur einer der Songs, die ihr und dem Publikum in den Gehörgängen bleiben.

In den letzten Tagen des 9-Euro-Tickets mag vielleicht das Kontrolletti-Lied nicht so zu zünden, aber insgesamt ist das Musical „Linie 1“ noch so aktuell, dass einem die Ohren schlackern. 1988 hatte der Film von Reinhard Hauff auf den Berliner Filmfestspielen Premiere, dieses Porträt einer Stadt, von der aus in sämtlichen Richtungen Osten war. Die liebenswerten und schrecklichen Widersprüche sind lustig und wild erzählt, auch mit politischen Spitzen. „Verrückt bleiben!“, ruft der Satiriker Dieter Hildebrandt, als die U-Bahn-Türen schließen. 1989, noch zu Mauerzeiten, lief der Film gar in ausgewählten Kinos in der DDR. Etliche Helden der Erstinszenierung des Stücks von Volker Ludwig und Birger Heymann am Grips-Theater spielten auch im Film mit, der jetzt für DVD und Stream in 4K restauriert wurde. Eine (vorerst) einzige Aufführung vor Publikum gibt es, mit Gästen, zum Beispiel Rainer Strecker (Kleister), Ilona Schulz (Maria), Petra Zieser (Lumpi) und dem Produzenten Eberhard Junkersdorf, im Freiluftkino am Schloss Charlottenburg. Im Grips am Hansaplatz wird das Stück weiter gespielt, ab Oktober wieder. Cornelia Geißler

Sonntag, 21.8., 20.30 Uhr, Sommerkino Schloss Charlottenburg


Filme von Jafar Panahi im Freiluftkino Hasenheide

Vor über einem Monat wollte sich der Regisseur Jafar Panahi in Teheran nach seinen Freunden und Regie-Kollegen Mohammad Rasoulof und Mostafa Al-Ahmad erkundigen. Die beiden waren kurz zuvor festgenommen worden, weil sie einen Aufruf gegen Polizeigewalt unterschrieben hatten. Doch anstatt Auskunft zu geben, nahmen die Beamten gleich auch Panahi in Gewahrsam, der dem Regime mit seinen kritischen Filmen schon lange ein Ärgernis war. Nun muss Panahi eine sechsjährige Haftstrafe für „Propaganda gegen das Regime“ absitzen.

Aus Solidarität zeigt das Freiluftkino Hasenheide in Zusammenarbeit mit Amnesty International am Sonntag zwei Filme des Regisseurs: „Taxi Teheran“, den Panahi heimlich drehte, weil ihm schon 2010 ein 20-jähriges Berufsverbot auferlegt wurde, und den er zur Berlinale schmuggelte, wo er 2015 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Und „Drei Gesichter“ von 2018, der, wie auch „Taxi Teheran“, größtenteils in einem Auto mit Panahi als Fahrer spielt. Gemeinsam mit einer berühmten iranischen Schauspielerin macht seine Figur sich auf, um mehr über den vermeintlichen Selbstmord einer jungen Frau herauszufinden. Der Film gewann in Cannes den Preis für das beste Drehbuch. Claudia Reinhard

Der inhaftierte Regisseur Jafar Panahi in seinem Film „Taxi Teheran“.
Der inhaftierte Regisseur Jafar Panahi in seinem Film „Taxi Teheran“.WELTKINO-VERLEIH

Sonntag, 21. August, im Freiluftkino Hasenheide, „Drei Gesichter“ läuft um 18 Uhr, „Taxi Teheran“ um 20.45 Uhr


Einweihung des Rio-Reiser-Platzes: „Sag mal, ist hier heut ’n Fest?“

„Sag mal, ist hier heut ’n Fest?“ Unter diesem Motto wird am Sonntag der frisch umbenannte Rio-Reiser-Platz in Kreuzberg eingeweiht und dem neuen Namensgeber des Platzes im SO36 gebührend gehuldigt. An diesem Tag, den 21. August, wird nun auch die mehrfach aufgrund juristischer und pandemischer Gründe verschobene Umbenennung offiziell vollzogen. Das Programm hat es in sich: Um 17.00 Uhr treten Ton Steine Scherben auf, die frühere Band des 1996 verstorbenen „Königs von Deutschland“. Anschließend spricht Kulturministerin Claudia Roth, die in den 80ern für einige Jahre die Managerin der Gruppe war. Dann, um 19.00 Uhr, wird die Gruppe Il Civetto ihren zur Veranstaltung passenden Song „Rio-Reiser-Platz“ zum Besten geben, worauf die Band Bungalow Gang folgt, die 2021 den Rio-Reiser-Preis gewann. Die Schauspielerin Julia Tonke moderiert den gesamten Abend und trägt in einer lyrischen Lesung um 19.30 Uhr Reiser-Texte vor. Die Veranstaltung ist umsonst, eine Voranmeldung ist nicht notwendig. Friedrich Conradi

Rio Reiser, hier bei einem Konzert in Berlin, ist 1996 verstorben. Am Sonntag wird der Heinrichplatz nach ihm umbenannt.
Rio Reiser, hier bei einem Konzert in Berlin, ist 1996 verstorben. Am Sonntag wird der Heinrichplatz nach ihm umbenannt.imago

Sonntag, 21. August, auf dem (noch) Heinrichplatz in Kreuzberg. Infos unter draußenstadt.berlin


Kille kille Pankow – ein Abend mit André Herzberg

Von Rio Reiser zu André Herzberg, nach dem zwar noch kein Platz benannt wird, dessen Band zu Ehren aber ein Stadtbezirk im Nordosten Berlins Pankow heißt. Vielleicht war es auch andersrum, wir wollen nicht kleinlich sein. Es gibt Menschen, die einfach nicht genug bekommen können von dem Gefühl der Vergänglichkeit. Ach, wie brutal schnell die Zeit vergeht und wie erbarmungslos sie unseren jugendlichen Schmelz, unsere Radikalität und unseren Lebensmut einkassiert! Ja, auch euren, lieber jugendlicher Kulturtipp-Leser und liebe jugendliche Kulturtipp-Leserin. Für diese empfindungsfreudigen Menschen könnte ein literarisch-musikalischer Abend mit dem Frontmann der ehemaligen Ost-Berliner Rockband Pankow, André Herzberg, Schauspielerin Josephin Busch und Jazzer Lutz Kerschowski das Richtige sein.

Marion Brasch moderiert das Programm, bei dem Songs erklingen, die dem Bezirk Pankow ein Denkmal setzten. Wobei die Band ja gar nicht nur auf Pankow anspielte, wo die Diplomaten, Bonzen und die Intellektuellen residierten, sondern mindestens ebenso auch auf den Punk (sprich: Pank). André Herzberg, der inzwischen vor allem Bücher schreibt, hat ganz schön zu knabbern an dem vergangenen Ruhm, und keiner macht das auf so herzerweichende und persönlich nehmende Weise wie er. Verschiedene Pankow-Wiederbelebungsversuche sind mehr oder weniger gescheitert oder haben sich eben als melancholische Rückblicke in die eigene Vergangenheit mit bitter-süßem Schmerz ins Gedächtnis gebrannt. Also, nicht verpassen! Schnell ist alles vorbei. Ulrich Seidler

Kille kille Pankow, 21. August, 19 Uhr im Frannz, Schönhauser Allee 36, Karten und Infos unter Tel.: 726 279 333 oder www.frannz.eu

Was ist eigentlich Abolitionismus?

„Abolitionismus setzt voraus, dass wir eine Sache ändern, nämlich alles“, sagte die Gefängnisforscherin Ruth Wilson Gilmore – der Anspruch des Theorie-Ansatzes, unter dem man auch eine politische Bewegung versteht, ist im Wortsinn radikal – er geht an die Wurzel des Problems Rassismus und der strukturellen Ungleichbehandlung, die durch staatliche Gewaltapparate mit zementiert wird. Vertreter:innen des Abolitionismus setzen sich für die Überwindung der Institutionen Gefängnis und Polizei in ihrer derzeitigen Form ein. Die „Black Lives Matter“-Bewegung katapultierte abolitionistische Theorie in den letzten Jahren von verstaubten Seminarräumen in Parlamente und auf die Straßen der USA – und darüber hinaus. Daniel Loick und Vanessa E. Thompson haben nun im Suhrkamp-Verlag ein Buch herausgegeben, in dem sie Grundlagentexte der Bewegung vorstellen.

Die Beiträge reichen von Mumia Abu-Jamal, Angela Davis und Michel Foucault bis zu Nikhil Pal Singh und Assa Traoré. Und Berlin wird am Wochenende zu einem sprichwörtlichen Brutkasten abolitionistischer Theorie und Praxis. Am Freitagabend, 19 Uhr, stellen Loick und Thompson ihr Buch im Aquarium (am Südblock) vor. Am Samstag kann man die Texte des Readers dort dann in einem Lektüre-Workshop vertiefen. Und am Sonntagabend diskutieren Lukas Hermsmeier und Carolin Wiedemann mit den zwei Philosph:innen in der Ada Bar in Neukölln über abolitionistische Kämpfe. Zeit, alles zu verändern.

Abolitionismus. Ein Reader, erschienen im Suhrkamp-Verlag, hrsg. von Daniel Loick und Vanessa E. Thompson. Buch-Launch und Lektüreworkshop im Aquarium (Am Südblock), Skalitzer Str. 6, Berlin-Kreuzberg; Diskussion in der Ada Bar, Sonnenallee 100.