Kolumne „Nachtgesichter“

Hanna Lakomy: Wie mein Beruf als prominente Hure mich zur Relativistin gemacht hat

Meine Konfrontation mit verschiedenen Wertesystemen, oder verschiedene gute Gründe, andere moralisch zu verurteilen.

Unsere Kolumnistin Hanna Lakomy.
Unsere Kolumnistin Hanna Lakomy.

Entrüstung.

Ent-Rüstung.

Hat das eigentlich etwas mit Rüstung zu tun?

Wer entrüstet ist, ist eben nicht gerüstet. Ihm fehlt das argumentative Rüstzeug. Mehr als Entrüstung kann er nicht, da steht er dann, hilflos, unbewaffnet, und ist schon am Ende. Entrüstung kann nie erklären, warum sie da ist, sie meint, sie verstehe sich von selbst.

Mein Beruf hat mich zur Relativistin gemacht. Eine prominente Hure wie ich kann sich gar nichts anderes erlauben. Der Preis für das Toleriertwerden ist Toleranz, der Preis für das Ausgehaltenwerden von der Gesellschaft ist das Aushalten dieser Gesellschaft. Ich bin nicht in der Position zu sagen, wo's lang geht. Ich gehöre nicht zu dem Wir, das manche Kolumnenschreiber gern benutzen, den Majestätsplural, dieses Wir als Gesellschaft, dieses Wir wollen, Wir sollten, Wir müssen. Ich habe diese Welt nicht gemacht, sie gehört mir nicht. Und wenn sie sich durch meine Wenigkeit ein wenig ändert (man wird doch noch träumen dürfen!), dann nur freiwillig.

Wenn mich jemand abschaffen will, die Absicht erklärt, das zu vernichten, was mich für ihn ausmacht, bin ich gewohnt, ihm höflich zu begegnen, um undogmatisch und ergebnisoffen über meine eigene Existenzberechtigung zu diskutieren.

Warum will mich jemand ändern, bekämpfen, steinigen? Entschuldigung, aber das ist doch sehr interessant! Da haben wir also einen Dissens. Wer von uns beiden irrt sich denn nun? Oder haben wir vielleicht beide recht? Let's agree to disagree? Würden Sie bitte diesen Stein aus der Hand legen? Legen Sie ihn doch kurz beiseite, auf diesen Nachttisch hier.

Du sollst nicht

Wer sich verteidigt, klagt sich an.

Aber wer angegriffen wird, hat das Recht, sich zu verteidigen.

Ich will nicht sagen, dass ich schwere Waffen besäße, aber ich besitze zumindest mein Nähkästchen, mit kleinen spitzen Nadeln darin.

Ich denke an diesen einen Kunden von mir aus dem arabischen Raum – ob er nun aus Katar war oder einem anderen Staat der arabischen Halbinsel, weiß ich nicht mehr.

Interessant war nicht der Akt an sich – es war ziemlich banal, eher unterdurchschnittlich in Sachen Performance, der Mann war unsportlich und beleibt, auch nicht mehr der Jüngste und hatte somit Schwierigkeiten. Die einzige Position, die er einnehmen konnte, war liegend auf dem Rücken, und so fand ich ihn auch vor, vollständig entkleidet, als ich aus dem Badezimmer kam. Er hatte anscheinend Erfahrungen mit der Situation und wusste mir knappe, zielführende Anweisungen zu geben. Manchmal ist es eben wirklich nur eine Dienstleistung – Sexarbeit ist Arbeit, und dieser Mann war wirklich ein hartes Stück Arbeit, um nicht zu sagen, ein weiches. Meine Leser sind ja erwachsen: Auch ein Handjob ist ein Job und gut bezahlt noch dazu. Der Mann war großzügig. Insofern tat es mir leid, dass er nicht mehr von mir hatte als mein kleines Händchen. Ich hätte mich sicher nicht an dieses alltägliche Ereignis erinnert, wenn er mir nicht nach erfolgreichem Abschluss, als ich ins Bad gewollt hatte, um mir die Hände zu waschen, etwas zugerufen hätte: Worte, die ich mir bis heute gemerkt habe. Denn sie waren wirklich bemerkenswert:

You should not do this.

Meine Antwort: I just need to wash my hands.

You must stop with this life. You will go to hell.

Setzte er etwa gerade an, mir eine Moralpredigt zu halten? Weil ich eine Hure bin? Eine Hure, die sein Sperma an den Händen hatte? Ihn auf diesen Umstand hinweisend, ohne Vorwurf, eher belustigt, immer noch ganz professionelle Servicekraft, entgegnete er streng:

With me, it's different. I am a man. But you are a woman!

Was meinte er nun damit wieder? Ich wusste nicht mal, welchem religiösen Fundamentalismus dieser Mann anhing, um die Welt so zu sehen: dass Sünden von Frauen strenger zu werten seien als die von Männern. Und hatte das überhaupt etwas mit Religion zu tun?

Er war jedenfalls frei von jeder Scham, oder, wie ich fand: von jeder Selbsterkenntnis, lag da, tiefenentspannt im eigenen Saft seines Menschenbildes, und war der Meinung, er hätte etwas Überzeugendes gesagt. Das keiner weiteren Erklärung bedürfe. Argumente folgten nicht. Er war lediglich moralisch entrüstet – über mein Verhalten. Wir hatten in diesem Moment etwas gemeinsam.

Aber ich will nicht stumm entrüstet sein, sondern einfühlsam, empathisch. Warum denkt ein Mensch so?

Eine Frage der Würde

Dieser Kunde ist beileibe nicht der einzige, der verlangt, dass ich mein Gewerbe aufgebe. In der deutschen Öffentlichkeit gibt es schon wieder eine Nischendebatte um die Abschaffung der Prostitution, wenigstens als legalen Beruf, nun mit einer neuen, originellen Begründung. Es geht um die Frage, ob sie überhaupt ein Beruf sein könne, da sie doch der Menschenwürde widerspräche – von ein paar Ausnahmefällen wie mir abgesehen, angeblich völlig unerheblich für das Gesamtbild. Wenn auch störend.

Du relativierst Prostitution!

Dieser Vorwurf gehört untrennbar zu meiner öffentlichen Existenz. Er ist absolut vernichtend: Meine Schuld besteht darin, dass ich existiere.

Es stimmt: Ich relativiere das üble Bild von Prostitution durch meine schiere Existenz, und ich hoffe auch, dass ich das tue. Das Bild von Prostitution ändere. So dass sichtbar wird, dass Prostitution noch etwas anderes ist als das gesellschaftliche Problem, als das sie in der öffentlichen Meinung verankert ist.

Möglicherweise verzerre ich die Verhältnisse. Möglicherweise stimmt die Gewichtung durch mich nicht mehr – das zumindest wird mir vorgeworfen.

Aber wer will beurteilen, was der „Mainstream“ von Prostitution heute in Deutschland ist? Sie ist vor allem: unsichtbar. Die Akteure wollen nicht, dass ihre Identität bekannt wird. Sie haben dafür verschiedene gute Gründe, vor allem die Stigmatisierung als Hure. Ich bin eine der wenigen Ausnahmen, denen die Stigmatisierung kaum etwas ausmacht. Allein deshalb bin ich keine typische Hure.

Ich wollte das zwar nie sein, doch es geht nicht um das, was ich will, sondern was ich bin.

Ich zweifle nicht daran, dass die Gegner von Prostitution nur die besten Absichten haben. Denn ich soll – nach dem Willen der Politiker, die Prostitution abschaffen wollen – mein Selbstbestimmungsrecht ja nur aufgeben, damit der Staat andere (vermeintlich) besser schützen kann. Es geht nicht um mich. Ich bin, als Individuum, entwürdigt, meiner Würde beraubt. Aber glauben Sie wirklich, dass mir dieses Absprechen meiner Menschenwürde weniger ausmacht, wenn es westliche Linke äußern, statt arabischer Fundamentalisten?

Mein fundamentalistischer Kunde hat vielleicht auch nur die besten Absichten. Sie glauben, er sei ein Chauvinist und Frauenhasser, aber er hat gar keinen Hass auf Frauen. Er hat lediglich eine sehr klare Vorstellung, wie die ideale Frau zu sein hat. Und er hat doch keinen Stein nach mir geworfen.

Was dachte er sich, als er mich in diesem intimen Moment zur sittlichen Umkehr bewegen wollte? Er hat sich doch diese heiligen Gesetze nicht ausgedacht, sie sind für ihn keine frei wählbare Meinung, sondern die objektive Wahrheit. Es ist für ihn eine unumstößliche Gewissheit, dass ich in der Hölle ende, wenn ich so weitermache. Ergo hat er seine Sympathie für mich entdeckt, seine Mitmenschlichkeit – nachdem ich zu Beginn unseres Stelldicheins für ihn nur irgendeine Hure war, eine, auf die es nicht weiter ankommt. Mir moralische Vorhaltungen zu machen, bedeutet vielleicht gerade das, was andere Kulturkreise meine Menschenwürde nennen. Er glaubte vielleicht wirklich, mich zu schützen, meine Ehre. Ich bin ihm nicht egal – während ich für gewissen Politiker hierzulande nur ein Störfaktor bin und zum bloßen Mittel degradiert werden soll.

Zum Relativisten wird man gemacht

Im Namen deines selbstgewählten Lebensmodells missachtest du das Leid anderer. Du bist privilegiert. Andere Prostituierte hingegen leiden. Also musst du halt auf deinen Spaß verzichten.

Ich kann dieses Vorwurf nachvollziehen. Ich spüre seine Berechtigung.

Aber, könnte jemand einwenden, der diesen Vorwurf zum ersten Mal liest: Was, wenn es doch bei dir gar keinen direkten kausalen Zusammenhang gibt zu dem Leid von Opfern von Menschenhandel? Wozu sich dafür rechtfertigen, wozu überhaupt darauf eine Antwort geben?

Und doch gehe ich in die Falle der Rechtfertigung, verteidige mich, und mache mich dadurch angreifbar. Ich setze mich dem Vorwurf aus. Warum? Weil er einen wahren Kern enthält. Und der trifft mich mitten ins Herz: Wie kannst du glücklich sein angesichts fremden Leids? Dein Herz ist verhärtet!

Wahrscheinlich kommt Ihnen das hier bekannt vor:

Iss auf, Kind, in Afrika hungern die Kinder!

Nur ist es in meinem Fall umgedreht: Wie kannst du es wagen, dich satt zu essen, in Afrika hungern die Kinder!

Doch zwischen der Sattheit und dem Wohlstand der ersten Welt und dem Hunger der dritten gibt es immerhin einen Kausalzusammenhang.

Moral bedeutet für den modernen Menschen vor allem dies: ein schlechtes Gewissen haben. Mit diesem schlechten Gewissen leben, klarkommen zu müssen. Mittel zur Entlastung des Gewissens zu finden. Und da ist es sehr hilfreich, auf andere zu schauen, die man als noch schuldiger identifiziert als sich selbst. Eine Luxuskurtisane bietet sich da an.

Und wenn auch mein Hunger den Hunger der anderen nicht lindert, und wenn mein Unglück auch niemanden glücklicher macht – ich will, darf es nicht anders aushalten, ein Mensch zu sein, ein Mensch untrennbar verbunden mit allen anderen Menschen auf der Erde. Wir sind doch eins! Das ist die Schuld, die uns erniedrigt. Die Schuld, die uns alle betrifft, ausnahmslos.

Universalismus vs. Relativismus

Auf dem Gymnasium hatte ich einen ambitionierten Philosophielehrer, der gern ein Lernspiel veranstaltete. Er tat dies, um seinen Schülern die Unterschiede zwischen moralischem Relativismus und Universalismus begreiflich zu machen. Er wollte dabei seinen Auftrag erfüllen, uns zu Verteidigern der Werte der Freiheit und Demokratie zu machen, der westlichen Werte, die sich als universelle Werte vermitteln sollten. Universalisten glauben an universelle Werte, wie etwa die Menschenrechte. Sie glauben, dass diese Werte, wenn auch erst seit kurzem anerkannt, immer schon gültig waren, dass sie, wahr sind. Zum Beispiel, dass allen Menschen die gleiche Würde, die Menschenwürde zusteht, und damit die Grundlagen der Demokratie und Rechtstaatlichkeit.

Fundamentalisten sind übrigens auch Universalisten, auch sie halten ihre Werte für das einzig Wahre. Und setzen sie in ihrem Einflussbereich notfalls mit Gewalt durch. So wie der Westen, nur dass der seinen Einflussbereich ständig zu erweitern strebte, um auch anderen Kulturen das Heil unserer universellen Werte mit Gewalt aufzwingen zu können, sei es nun das Wort Christi oder das jeweils aktuelle Update von „Freiheit“. Der Westen hat ja immer nur die besten Absichten.

Heute wird das immer schwieriger, denn wir sind ökonomisch abhängig von den Feinden unserer Werte, und unsere Doppelmoral macht uns vollständig lächerlich. Aber ist das ein Argument gegen unsere wertvollen Werte?

Relativisten lehnen Werte nicht ab, bestreiten jedoch, dass sie universell und ewig gültig sind. Sie weisen darauf hin, dass Werte abhängig von historischen Entwicklungen seien. Dass auch unsere Werte, an denen wir hängen, eines Tages obsolet werden könnten, so wie die Werte jener Menschen vor 500 Jahren, die ja auch nur die besten Absichten gehabt hätten. Darum dürfe man Menschen in anderen Kulturkreisen, mit anderen Wertesystemen, nicht das westliche aufzwingen, sondern müsse sie selbstständig ihren Weg gehen lassen.

Der Lehrer teilte die Klasse in zwei Gruppen ein. Die einen sollen die universellen Werte (des Abendlandes) verteidigen, die anderen sollen eine möglichst relativistische Position einnehmen. Sodann stellte er moralische Prinzipien zur Debatte: Alle Menschen sind frei geboren. Der Mensch ist gut. Du sollst nicht töten.

Es ging dann gewöhnlich hoch her in der Klasse, am Ende wurde nur noch gebrüllt, und sogar das Klingelzeichen verlor seine erlösende Macht.

Die Relativisten waren immer in schwächerer Position. Sie konnten ihre Haltung nicht so konsequent verteidigen, und das hatte Gründe: Weil doch der Relativist unaufrichtig ist, es nur nicht zugibt, dass auch der Relativismus auf universell gültigen Werten aufbaut, zum Beispiel der Toleranz.

Weil der Relativist sich unterlassener Hilfeleistung schuldig macht. Was, wenn es den Menschen zu langsam geht mit der gewünschten Werteentwicklung in Richtung Menschenwürde, muss man diese Menschen dem Relativismus opfern, um des Friedens willen? Was hätte dieser Frieden denn für einen Wert, wenn er ebenso Menschenopfer fordert wie Krieg um Werte?

Relativismus ist eben nicht up to date. Er  passt nicht zur modernen Demokratie. Die demokratische Massengesellschaft braucht Leidenschaft, die Mobilisierung durch das Gefühl, keine nüchterne Distanz. Das macht sie so gefährlich.