Slavoj Zizek

Der Kommunismus: Eine verlorene Sache, die die Welt retten kann

Slavoj Zizek erkennt in Bini Adamczaks Buch „Gestern Morgen“ eine Anleitung zum Weiterdenken: Warum Kommunisten den Stalinismus als das ihre anerkennen müssen.

Slavoj Zizek
Slavoj ZizekIMAGO/Mary Evans

In ihrem großartigen Werk „Gestern Morgen“ liefert Bini Adamczak nicht weniger als die endgültige Darstellung dessen, was man nur als unabänderlichen, absolut authentischen, kommunistischen Wunsch bezeichnen kann – die Idee einer Gesellschaft, die Herrschaftsverhältnisse vollständig überwindet: „Nicht wie die Sklavinnen, die nur so frei sein wollten wie ihre Herrinnen, nicht wie die Bäuerinnen, die nur den Zehnten zahlen wollten und nicht den Fünften, nicht wie die Bürgerinnen, die nur die politische Freiheit wollten und nicht die ökonomische – die klassenlose Gesellschaft haben die Arbeiterinnen verlangt. Die Abschaffung aller Herrschaft haben die Kommunistinnen versprochen.“

Dieser Wunsch ist „ewig“ in dem einfachen Sinn, dass er ein Schatten ist, der die gesamte bisherige Geschichte begleitet hat, die, wie Marx und Engels schrieben, eine Geschichte des Klassenkampfes ist. Das Besondere an Adamczaks Buch ist, dass sie diesem Wunsch durch eine genaue Analyse des Scheiterns der (europäischen) kommunistischen Bewegung im 20. Jahrhundert nachspürt, indem sie es vom Hitler-Stalin-Pakt bis zur brutalen Niederschlagung des Kronstädter Aufstands zurückverfolgt.

Die Details, die sie beschreibt, zeigen, dass etwa der Hitler-Stalin-Pakt nicht allein mit brutaler Realpolitik zu erklären ist. Seltsame Auswüchse, wie die Tatsache, dass es 1940 den Wächtern in den Gulags verboten war, den Gefangenen „Faschisten!“ zuzurufen, um die Nazis nicht zu beleidigen, stören dieses Bild: „Vollkommen unbegreiflich, weil aus keinem machtpolitischen Kalkül mehr deduzierbar, muss aber jene kleine Anordnung Berias bleiben, die es dem Wachpersonal der Gulags untersagt, die politischen, das heißt die meist antifaschistischen Häftlinge, die häufig unter der Anklage ‚trotzkistisch-faschistischen Diversantentums‘ verurteilt worden waren, weiter als Faschisten zu beschimpfen.“

<a target="_blank" rel="nofollow" href="https://www.edition-assemblage.de/en/books/gestern-morgen/">Bini Adamczak</a>, „<em>Gestern Morgen - über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft</em>“
Bini Adamczak, „Gestern Morgen - über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunftedition assemblage

Der Traum einer anderen Zukunft musste „rekonstruiert“ werden

Adamczaks Fokus ist, wie der Untertitel des Buchs zeigt – „Über die Einsamkeit der kommunistischen Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft“ –, zweierlei: Die größte Einsamkeit ist die der Kommunisten, die gesäubert wurden, aber weiterhin an die kommunistische Idee glaubten, die von der Partei verkörpert wurde, welche sie liquidierte. Das heißt, in Lacans Worten, dass die Partei für sie das einzige große Andere blieb. Die Sackgasse, in der sie sich befanden, bestand darin, dass der Ausweg nicht war, auf der Reinheit des kommunistischen Traums zu bestehen, den die Partei verraten hatte. Dieser Traum musste „rekonstruiert“ werden. Die meisten von ihnen scheiterten an dieser Aufgabe, trugen zur liberalen – oder auch konservativen – Kritik am Kommunismus bei und verfassten Schriften im Stil von „Ein Gott, der keiner war“. Nur um sich letztlich den antikommunistischen Kriegern des Kalten Krieges anzuschließen.

Wie Adamczak feststellt, erklärt die Abwesenheit der kommunistischen Vision, warum beim Zerfall des europäischen Kommunismus um 1990 „das Jubelgeschrei der Sieger“ des Kalten Krieges so wenig überzeugend war: „es ist ohne alle Freude,“ schreibt Adamczak. „Statt von Erleichterung über das Abwenden einer drohenden Gefahr oder von Mitfreude mit dem neuen Glück der ehemaligen Unterdrückten (Russlands neuen Millionärinnen?) nährt es sich von verbitterter Missgunst. Es ist die Schadenfreude der neidvoll Daheimgebliebenen gegenüber der auf hoher See ersoffenen Schwester.“

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Zur Person
Slavoj Žižek wurde am 21. März 1949 in Ljubljana, SR Slowenien, Jugoslawien, geboren. Er ist ein slowenischer Philosoph, Forscher am Institut für Philosophie der Universität Ljubljana und internationaler Direktor des Birkbeck Institute for the Humanities der Universität London. Er ist außerdem Professor für Philosophie und Psychoanalyse an der European Graduate School und Global Distinguished Professor für Germanistik an der New York University und arbeitet zu Themen wie Kontinentalphilosophie, Psychoanalyse, Politische Theorie, Kulturwissenschaft, Kunstkritik, Filmkritik, Marxismus, Hegelianismus und Theologie. Er gehört zu den bekanntesten lebenden Philosophen der Welt und ist Kolumnist der Berliner Zeitung.

Adamczak dreht das bekannte antikommunistische Motto um, wonach diejenigen, die nicht über den Stalinismus reden wollen, vom Kommunismus schweigen sollten: „Aber was kann vom Stalinismus sagen, wer vom Kommunismus nichts hören will? Wer von der Geschichte dieser Vergangenheit schreiben will, ohne von der Geschichte der Zukunft zu schreiben, die sie in sich begräbt?“ Nur der Kommunismus setzt die höchsten Maßstäbe, an denen er zu messen und kritisch abzulehnen ist. Daher, so Adamczak, sei dem Antikommunismus zuallererst vorzuwerfen, „dass er die Verbrechen des Stalinismus verharmlost. Nicht weil in den Gulags neben den Menschen auch noch eine Idee gemordet worden wäre – was für ein zynischer Einfall –, sondern weil erst der Kommunismus das historisch einklagbare Anrecht in die Welt gezwungen hat, keine Entmündigung hinnehmen, keine Erniedrigung mehr ertragen zu müssen. Seit dem ist noch das kleinste Unrecht größer und das größte schmerzt um ein Vielfaches mehr.“

Slavoj Zizek ist Psychoanalytiker, Philosoph, Kulturkritiker und hegelianischer Marxist.
Slavoj Zizek ist Psychoanalytiker, Philosoph, Kulturkritiker und hegelianischer Marxist.www.imago-images.de

Vergangenes Unrecht an heutigen Maßstäben messen

Deshalb ist es das Schlimmste, was ein Kommunist tun kann, kommunistische Staaten halbherzig und vergleichsweise bescheiden zu verteidigen. Wie Adamczak sagt: „Auf die (antikommunistische) Kritik des Kommunismus reagieren Kommunistinnen mit Verteidigung – es sei nicht alles am Kommunismus schlimm –, mit Abwehr – das sei überhaupt kein Kommunismus gewesen – oder mit Angriff – die Kritik der kommunistischen Verbrechen diene lediglich der Legitimation der Verbrechen seiner Feinde.

Sie haben Recht. Aber was über den Kommunismus ist gesagt damit, dass der Nationalsozialismus schlimmer, der Kapitalismus ebenso schlimm gewesen ist? Welches Urteil gesprochen über einen Kommunismus, in dem nicht alles, nur fast alles schlimm war? Und vor allem, welcher Anspruch erhoben auf einen Kommunismus, der trotz jahrhundertelanger Versuche, ihn zu realisieren, real doch nur in der Phantasie derer existierte, die, immer wenn sie befragt werden, leider ohne alle Macht sind.“

Erinnern Sie sich nur an die Verteidigung Kubas: Ja, hieß es da, die Revolution sei ein Misserfolg gewesen, sie habe aber eine gute Gesundheitsversorgung und Bildung gehabt. Und hören wir derzeit nicht eine ähnliche Argumentation von denen, die derzeit „Verständnis“ für Russland zeigen, obwohl sie die Invasion in der Ukraine verurteilen? Wenn sie etwa sagen, die Kritik an den russischen Verbrechen in der Ukraine diene lediglich dazu, die Verbrechen des liberalen Westens zu legitimieren?

Adamczak weist auch die sogenannte postmoderne Linke zurück, die den Kommunismus für seine Konzentration aufs Ökonomische kritisiert, während Feminismus, also der Kampf gegen sexuelle Unterdrückung und alle anderen Bereiche des „kulturellen Marxismus“ als zweitrangig ignoriert würden. Eine solche Kritik kommt dem bequemen Historismus, der die „Ewigkeit“ der kommunistischen Idee ignoriert, letztlich allzu nahe. Wenn ein Unrecht geschieht, ist seine historisierende Relativierung durch den Verweis auf besondere Umstände, die nicht nach heutigen Maßstäben zu beurteilen seien, falsch. Wir sollten gerade das tun – das vergangene Unrecht an heutigen Maßstäben bemessen. Wir sollten schockiert sein, wie Frauen in vergangenen Jahrhunderten behandelt wurden, dass wohlwollende, „zivilisierte“ Menschen Sklaven besaßen und so weiter.

Die eigentliche kommunistische Stärke besteht letztlich nicht darin, nur den kapitalistischen Gegner zu bekämpfen. Sondern den emanzipatorischen Traum zu verraten, der sie ins Leben gerufen hat. Eine echte Kritik des real existierenden Sozialismus sollte daher nicht nur darauf hinweisen, dass das Leben in einem kommunistischen Staat meist schlechter war als das in vielen kapitalistischen Staaten. Sein größter „Widerspruch“ ist die Widersprüchlichkeit in seinem Innersten, nicht nur der krasse Gegensatz zwischen der Idee und der Realität, sondern die weniger wahrnehmbare Veränderung der Idee selbst.

Stalinismus ist im Kommunismus implizit, aber nicht sein logischer Schluss

Das idealisierte Bild der Zukunft, das die kommunistische Macht verspricht, ist unvereinbar mit der kommunistischen Idee. Im letzten Akt von Shakespeares „Der Sturm“ sagt Prospero zu Caliban: „Dieses Ding der Finsternis erkenne ich als das Meine an.“ Jeder Kommunist muss etwas Ähnliches über den Stalinismus sagen – das größte „Ding der Finsternis“ in der Geschichte des Kommunismus. Um ihn wirklich zu verstehen, muss die erste Geste darin bestehen, „ihn als das Meine anzuerkennen“, sprich voll und ganz zu akzeptieren, dass der Stalinismus keine kontingente Abweichung oder falsche Anwendung des Marxismus ist, sondern in seinem Kern als Möglichkeit mit impliziert. Aber sagt Hegel nicht eigentlich etwas Ähnliches in seinen berühmten Zeilen über die Französische Revolution?

„Niemals, seit die Sonne an ihrem Firmament stand und die Planeten sich um sie drehten, hatte man wahrgenommen, dass das Dasein des Menschen in seinem Kopf, das heißt im Denken, seinen Mittelpunkt hat. [...] Anaxagoras hatte als erster gesagt, dass der Verstand die Welt regiert; aber erst jetzt war der Mensch zur Erkenntnis des Prinzips vorgedrungen, dass das Denken die geistige Wirklichkeit regieren sollte. Das war also eine glorreiche geistige Dämmerung. Alle denkenden Wesen nahmen an dem Jubel dieser Epoche teil. Gefühle von erhabenem Charakter bewegten damals die Gemüter der Menschen; ein geistiger Enthusiasmus durchströmte die Welt, als ob die Versöhnung zwischen dem Göttlichen und dem Weltlichen nun zum ersten Mal vollzogen würde.“

Man beachte, dass Hegel dies ein Vierteljahrhundert nach der Französischen Revolution sagte, Jahrzehnte nachdem er sich zeigte, wie die Freiheit, die die Französische Revolution verwirklichen wollte, notwendigerweise in Terror umschlug. Genau dasselbe sollten wir über die Oktoberrevolution sagen, nachdem wir den Stalinismus als ihre Folge erlebt haben: Auch sie war so eine „glorreiche geistige Morgenröte“.

Wir müssen diese Antinomie in vollem Umfang aushalten und dabei zwei Fallen vermeiden: einerseits die Ablehnung des Stalinismus als Irrtum, der auf lediglich zufällige Umstände zurückzuführen sei. Und andererseits die vorschnelle Schlussfolgerung, Stalinismus sei die „Wahrheit“ des kommunistischen Begehrens.

Jedes Küchenmädchen muss einen Staat regieren können

Diese Antinomie wird in Lenins „Staat und Revolution“ auf die Spitze getrieben, einem Buch, dessen Vision der Revolution auf dem authentischen kommunistischen Begehren beruht: Wie Lenin schreibt, wird sich mit der Revolution „zum ersten Mal in der Geschichte der zivilisierten Gesellschaft die Masse der Bevölkerung erheben, um eine unabhängige Rolle zu spielen, nicht nur bei Abstimmungen und Wahlen, sondern auch bei der täglichen Verwaltung des Staates. Im Sozialismus werden alle abwechselnd regieren und sich bald daran gewöhnen, dass niemand mehr regiert.“

Diese wahrhaft kommunistische Dimension verdichtet sich in Lenins berühmter Formel, dass jedes Küchenmädchen lernen solle, den Staat zu regieren, die in den 1920er-Jahren als Slogan für die Emanzipation der Frau endlos wiederholt wurde. Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf den Kontext zu werfen, in dem Lenin diese Parole rechtfertigt, welche auf den ersten Blick utopisch erscheinen mag, zumal er betont, dass die Parole etwas bezeichnet, das „sofort, von heute auf morgen“ und nicht erst in einer späteren kommunistischen Zukunft geschehen kann und muss.

Lenin beginnt seine Argumentation, indem er bestreitet, utopisch zu sein: Gegenüber den Anarchisten behauptet er seinen völligen Realismus. Er rechnet nicht mit „neuen Menschen“, sondern mit „Menschen, wie sie jetzt sind, mit Menschen, die auf Unterordnung, Kontrolle und ‚Vorarbeiter und Buchhalter‘ nicht verzichten können“. Lenin schreibt: „Wir sind keine Utopisten, wir ‚träumen‘ nicht davon, mit einem Schlag auf alle Verwaltung, auf alle Unterordnung zu verzichten. Diese anarchistischen Träume, die auf dem Unverständnis der Aufgaben der proletarischen Diktatur beruhen, sind dem Marxismus völlig fremd und dienen in der Tat nur dazu, die sozialistische Revolution zu verschieben, bis die Menschen sich ändern. Nein, wir wollen die sozialistische Revolution mit Menschen, wie sie jetzt sind, mit Menschen, die auf Unterordnung, Kontrolle und ‚Vorarbeiter und Buchhalter‘ nicht verzichten können.“

Lenin: Bei der Arbeit gehorchen, am Wochenende debattieren

Aber wie soll das geschehen? Hier kommt der Schlüsselmoment der Lenin’schen Argumentation: „Der Mechanismus des gesellschaftlichen Managements ist im modernen Kapitalismus bereits vorhanden“ – der Mechanismus des automatischen Funktionierens eines großen Produktionsprozesses, in dem die Chefs als Vertreter der Eigentümer lediglich formale Befehle erteilen. Dieser Mechanismus läuft so reibungslos, dass die Rolle des Chefs, ohne ihn zu stören, auf einfache Entscheidungen reduziert ist und von einer gewöhnlichen Person gespielt werden kann. Alles, was die sozialistische Revolution also tun muss, ist, den kapitalistischen oder staatlich eingesetzten Chef durch einen zufällig gewählten, einfachen Menschen zu ersetzen.

Was Lenin befürwortet, ist „die Umwandlung der öffentlichen Funktionen von politischen in einfache Funktionen der Verwaltung“. Wo aber ist in diesem entpolitisierten Verwaltungsapparat Platz für Feedback derer, die der „eisernen Disziplin“ gehorchen sollen? Lenins Lösung war geradezu kantianisch: Am Wochenende in öffentlichen Versammlungen frei debattieren, aber bei der Arbeit gehorchen und arbeiten! Die Bolschewiki müssen sich demnach „an die Spitze des erschöpften Volkes stellen, das müde nach einem Ausweg sucht, und es auf den wahren Weg führen.“

Häufig wurde festgestellt, wie Lenin das Feld hier schrittweise verengt: Zuerst handelt es sich um die Mehrheit, die ausgebeutete Masse des Volkes. Dann ist es das Proletariat, das schon nicht mehr die Mehrheit ist – man bedenke, dass in Russland damals mehr als 80 Prozent der Bevölkerung Bauern waren –, sondern eine privilegierte Minderheit. Dann wird selbst diese Minderheit zu einer Masse von verwirrten, „erschöpften Menschen“, die von der „bewaffneten Vorhut aller Ausgebeuteten und Werktätigen“ geführt werden müssen.

Amazon und Facebook pervertierten Lenins Traum

Wie erwartet enden wir mit dem bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Willen einer einzigen Person, dem sowjetischen Diktator. Ein Hegelianer würde hier sofort die Frage der Vermittlung aufwerfen: Wir haben drei Ebenen: das Universelle (die arbeitende Mehrheit, sprich, „alle“), das Partikulare (die Partei, die „bewaffnete Vorhut“, welche die Staatsmacht innehat) und das Singuläre (der Anführer). Lenin ignoriert die Methoden der Vermittlung, auf denen sich der eigentliche politische Kampf abspielt. Aus diesem Grund gibt es, wie Ralph Millband feststellte, keine Debatte über die Rolle der Partei, wenn Lenin die Funktionsweise des sozialistischen Wirtschaftens beschreibt.

Dies bringt uns zu einer weiteren Antinomie Lenins: Trotz der von ihm eingeforderten, totalen Politisierung des gesellschaftlichen Lebens ist seine Vision der sozialistischen Wirtschaft zutiefst technokratisch. Die Wirtschaft ist eine neutrale Maschine, die unabhängig von der Person, die an ihrer Spitze steht, reibungslos funktionieren kann. Die Tatsache, dass ein Küchenmädchen an der Spitze eines Staates stehen kann, bedeutet ja gerade, dass es keine Rolle spielt, wer an Staates Spitze steht. Das Küchenmädchen ähnelt auf seltsame Weise der Rolle, die Hegel dem Monarchen zuschreibt: Sie gibt nur ein formales „Ja“ zu den Vorschlägen, die von Managern und Spezialisten ausgearbeitet wurden.

Aber warum dieses alte Thema wieder aufnehmen, das heute offensichtlich überholt ist? Weil es das keineswegs ist: Die neuesten Trends im Unternehmenskapitalismus stellen eine pervertierte Version von Lenins Traum dar. Nehmen wir Unternehmen wie Amazon, Facebook oder Uber. Amazon und Facebook stellen sich als reine Vermittler dar: als reibungslos funktionierender Algorithmus, der das Gemeingut unserer Interaktionen reguliert. Warum sollte man diese Konzerne also nicht einfach verstaatlichen, den Kopf des Eigentümers oder Chefs abschlagen und ihn durch einen normalen Menschen ersetzen? Einen, der oder die sich darum kümmert, dass das Unternehmen den Interessen des Unternehmens dient, die Maschine also nicht so verdreht wird, dass sie nur bestimmten kommerziellen Interessen dient, die den vorherigen Eigentümer zum Multimilliardär machten?

„Gestern Morgen“-Autorin Bini Adamczak
„Gestern Morgen“-Autorin Bini AdamczakCC BY 2.0/Rosa-Luxemburg-Stiftung

Der Kommunismus: Eine verlorene Sache, die die Welt retten kann

Mit anderen Worten: Können Bosse wie Bezos und Zuckerberg nicht durch die von „Diktatoren“ des Volkes ersetzt werden, wie Lenin sie sich vorstellte? Nehmen wir Uber: Es stellt sich auch als reiner Vermittler dar, der Fahrer und diejenigen, die eine Fahrt brauchen, zusammenbringt. Sie alle ermöglichen es uns, unsere Freiheit (scheinbar) zu behalten. Sie kontrollieren lediglich den Raum unserer Freiheit. Rechtfertigen solche Phänomene nicht Karl-Heinz Dellwo, der sich auf „Herrschaft ohne Subjekt“ beruft? Demnach sei es heute „vernünftig, nicht mehr von Herren und Dienern zu sprechen, sondern nur noch von Dienern, die Diener befehlen“. Diener, die Diener befehlen: Ist es nicht das, was Lenin mit seiner Parole eigentlich vorschwebte, dass „jedes Küchenmädchen lernen sollte, den Staat zu beherrschen“?

Werden Elemente der Post-Parteien-Politik im heutigen Kapitalismus nicht bereits sichtbar? Nehmen wir die Schweiz. Wer kennt die Namen der Minister in ihrer Regierung? Wer weiß, welche Partei dort an der Macht ist? Vor Jahrzehnten wurde wiederholt ein Kommunist zum Bürgermeister von Genf gewählt, jener Stadt, die für das große Kapital steht. Nichts hat sich geändert.

Ja, wir müssen die Tatsache akzeptieren, dass es für den Kommunismus unmöglich ist, zu siegen – im selben Sinne, in dem die Ukraine nicht über Russland siegen kann. Der Kommunismus ist in diesem Sinne eine verlorene Sache. Aber, wie G. K. Chesterton es in seinem Buch „What’s Wrong With the World“ schrieb: „Die verlorenen Sachen sind genau die, die die Welt hätten retten können.“

Revolutionäre sollten vor der Konterrevolution kapitulieren

Auf den letzten Seiten des Buches spielt Adamczak mit zwei extremen Lösungen. Was wäre, wenn kommunistische Revolutionäre, die wissen, dass sie neuen Terror auslösen werden, im Voraus vor der Konterrevolution kapitulieren, um so ihre Moral zu bewahren und ihre eigene Konterrevolution zu verhindern? Adamczaks Beispiel ist Salvador Allende, der auf den bewaffneten Kampf gegen den Militärputsch letztlich verzichtete. Doch wir sollten zumindest die Debatte in der Sowjetunion in den frühen 1920er-Jahren erwähnen. Nachdem klar wurde, dass es keine europäische Revolution geben wird, und die Bolschewiki erkannten, dass sie keine Chance hatten, mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen, schlugen einige von ihnen vor, dass sie die Macht einfach abgeben sollten.

Adamczaks andere extreme Lösung ist, dass Kommunisten, nachdem sie die Staatsmacht errungen haben, gegen die terroristische Versuchung ankämpfen sollten, indem sie den Terror gegen sich selbst einsetzen. Indem sie also bewusst die Notwendigkeit ihrer eigenen Säuberung, der Liquidierung der Revolutionäre der ersten Generation akzeptieren. Was, wenn die einzig denkbare Lösung dieser Antinomie ein seltsamer Kurzschluss ist: Wenn die Kommunisten an die Macht kommen, organisieren sie eine „Konterrevolution“ gegen ihre eigene Herrschaft – und errichten einen Staatsapparat, der ihre eigene Macht einschränkt?

Aus dem Englischen von Friedrich Conradi