Berlin-Natürlich gilt auch in diesem Fall die Unschuldsvermutung. Es könnte auch ganz anders gewesen sein, als es der Musiker Gil Ofarim in einem emotionalen Statement via Instagram mitgeteilt hat. Demnach sei er am Montag in Leipzig Opfer einer antisemitischen Attacke geworden. In einem Hotel, in das er einchecken wollte, sei er in einer Warteschlange mehrfach zurückgewiesen worden. Und als er sich an der Rezeption nach dem ungewöhnlichen Verhalten erkundigte, soll er unmissverständlich aufgefordert worden sein: „Packen Sie Ihren Stern ein“.
Der 1982 in München geborene Gil Ofarim trägt um seinen Hals einen Davidstern, meist offen sichtbar. Nicht als Zeichen der Stigmatisierung, sondern als stolz zur Schau getragenen Schmuck und wohl auch als Ausdruck der Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben.
Über seine musikalische und schauspielerische Karriere hinaus ist Gil Ofarim als reflektiert-moderne Persönlichkeit in Erscheinung getreten. Er gilt als politisch engagiert und integer. In gemeinsamen TV-Auftritten mit seinem Vater, dem Sänger Abi Ofarim, hat er wiederholt darüber gesprochen, was es für ihn als jungen Menschen bedeutet habe, als Jude in Deutschland geboren worden zu sein.
Die Ofarims – eine willkommene internationale Note
Die Geschichte von Gil Ofarim ist alles andere als die eines zufälligen Aufwachsens in Deutschland. Zusammen mit seiner ersten Frau, der Sängerin Ester Ofarim, bildete Gils Vater Abi in den 1960er-Jahren ein erfolgreiches Pop-Duo, das tief in die kollektive Tonspur der Deutschen hineingewirkt hat. Mit auf Englisch gesungenen Songs wie „Morning Of My Life“ und „Cinderella Rockefella“ verliehen sie der deutschen Schlagerwelt eine willkommene internationale Note.

Darüber hinaus galt ihre Präsenz in zahlreichen Fernsehshows sowie in den Konzerthallen zwischen Hamburg und München als wichtiger Beleg für die Rückkehr der Deutschen in die internationale Gemeinschaft nach der kaum 20 Jahre zurückliegenden moralischen Diskreditierung durch die nationalsozialistischen Verbrechen. Die von den Ofarims verkörperte musikalische Leichtigkeit stellte einen starken Kontrast zu den politisch kaum zu schließenden Wunden des Holocaust dar. Es war denn auch kein uneingeschränktes Glück, das die Ofarims in Pomp und Glamour feiern durften. In Israel, wo sich das Paar während seiner gemeinsamen Militärzeit kennengelernt hatte, nahm man ihm gerade den in Deutschland erworbenen Ruhm übel.
Allein die biografischen Hintergründe Abi Ofarims, in dessen Fußstapfen sein Sohn Gil in mancherlei Hinsicht schlüpfte, machen das Leipziger Geschehen zu einem besonderen Fall. Er zeigt, wie lang und schwierig der Weg zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit ist, in der Juden als integrativer Bestandteil angesehen werden.
Ein ganz anderes kulturelles Gedächtnis
Was sich in vielen anderen Konfliktsituationen mit ein bisschen wechselseitig vorhandenem gutem Willen rasch auflösen ließe, bedarf nun polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen. Und so begrüßenswert der sofort ausgelöste zivilgesellschaftliche Protest gegen die mutmaßliche soziale Entgleisung in dem Leipziger Hotel auch ist, verweist er doch auf ein kaum zu entzerrendes Klima der Grenzüberschreitung. Es ist nicht allein damit getan, eine antisemitische Schmähung als solche zu erkennen und sie entschlossen zurückzuweisen. Gerade die schwierige Nachbereitung einer solchen Begebenheit deutet vielmehr darauf hin, dass es längst auch eine Gegenöffentlichkeit gibt, auf die der Vorfall eine stimulierende Wirkung ausübt. In einer sozialen Wirklichkeit, in der wissenschaftlichen Studien zufolge antisemitische Einstellungen bei bis zu 20 Prozent der Bevölkerung latent vorhanden sind, scheint der Konsens über Sagbares und Unsagbares längst aufgebrochen.
Am 9. Oktober 2021 jährt sich zum zweiten Mal der Anschlag auf die Synagoge von Halle. Das haben Kulturstaatsministerin Monika Grütters, der Zentralrat der Juden und der Deutsche Kulturrat zum Anlass für eine gemeinsame Tagung genommen, die sich an diesem Donnerstag über das Medienbild von Jüdinnen und Juden in Deutschland verständigt. Wie wird über Jüdinnen und Juden, über jüdisches Leben in Deutschland und über den Staat Israel berichtet? Welche Stereotypen – so lautet eine Frage der Tagung – werden transportiert, die möglicherweise antisemitischen Haltungen Vorschub leisten?

