Das Freedom House ist eine internationale NGO mit Sitz in Washington, deren Ziel es ist, die Demokratie zu fördern. Ihr Präsident ist Michael J. Abramowitz. Bis vor Kurzem war er Berlin Prize Fellow der American Academy. Wir sprachen an einem seiner letzten Tage in Berlin mit ihm.
Zur Jahrhundertwende ging es der Demokratie gut. Es sah so aus, als ob sich diese Staatsform früher oder später in allen Ländern durchsetzen würde. Doch jetzt sind Demokratien im Niedergang, autokratisch regierte Länder sind im Aufschwung. Erleben wir eine Zeitenwende?
Darüber denke ich ununterbrochen nach. Im Freedom House verfolgen wir den Gesundheitszustand von Demokratien seit fast 50 Jahren. Wir veröffentlichen einen jährlichen Überblick über den Zustand der Freiheit in der Welt. Der erste Bericht wurde 1973 veröffentlicht. Damals sah es für die Demokratie auch nicht so gut aus. Es gab den Ostblock und viele Diktaturen in der ganzen Welt. Aber dann wuchs die Demokratie. Die Franco-Diktatur in Spanien endete, dann kam das Ende der Sowjetunion, der Fall der Berliner Mauer. 30 Jahre lang ging es aufwärts mit der Demokratie. Doch dieser Aufschwung kam um 2006 zu einem Ende. Und jetzt stecken wir mitten in einer Demokratie-Rezession.
Was bedeutet das?
Das bedeutet, dass jedes Jahr mehr Länder von einem Rückgang politischer Rechte und Freiheitsrechte berichten. Es ist ein weltweites Phänomen, aber der Fokus liegt auf Russland und China. Doch es geht nicht nur um diese beiden Länder, es geht auch um die Türkei, Myanmar, Venezuela.
Was ist mit Polen, Ungarn?
Das sind schwächer werdende Demokratien. Auch Indien zählt dazu. Und natürlich darf man die USA nicht vergessen. Die USA sind noch immer eine starke Demokratie, aber sie ist in den vergangenen zehn oder zwölf Jahren erodiert. Insgesamt ergibt das ein sehr düsteres Bild, aber ich bleibe optimistisch. Vielleicht ist die Situation in der Ukraine ein Weckruf.

Freedom House ordnet Länder in drei Kategorien ein: frei, teilweise frei und nicht frei. Wie viele Menschen leben in einem freien Land?
Wir vergeben Punkte auf einer Skala von 0 bis 100. Und wir schauen uns dafür die gesamte Bandbreite von politischen Rechten und Freiheitsrechten an. Die Basis einer Demokratie sind freie Wahlen. Aber man braucht auch eine freie Presse, Rechtsstaatlichkeit, Transparenz. Laut unserer jüngsten Erhebung vor ein paar Wochen lebt nur einer von fünf Menschen in einem freien Land. Das sind zwanzig Prozent.
Haben Sie eine Erklärung für diese Entwicklung?
Zum einen gibt es eine Vertrauenskrise, was die Fähigkeit von Demokratien angeht, ein faires ökonomisches Wachstum zu ermöglichen. Ihr Niedergang steht in Zusammenhang mit den ökonomischen Verwerfungen in den Jahren 2008 und 2009. Und es gibt oder gab Politiker in autokratischen Ländern wie China oder Populisten wie Donald Trump, Orban, die Partei PiS in Polen, die behaupten, bessere Ergebnisse für die Menschen zu erzielen. Ich glaube auch, dass die weltweiten Veränderungen im Mediensystem zum Niedergang beitragen. Die unabhängigen Medien werden schwächer. Journalisten stehen heute unter großem Druck. Sie werden ermordet, bedroht. Aber auch die wirtschaftliche Tragfähigkeit von unabhängigen Medien nimmt ab. Das bedeutet weniger Kontrolle für die Politik. Und dann gibt es das Internet, von dem man anfangs hoffte, es werde Informationen demokratisieren.
Was ist stattdessen passiert?
Das Internet gibt tatsächlich Menschen eine Stimme, die zuvor keine hatten. Aber es entstand auch die Möglichkeit zu manipulieren, falsche Informationen zu verbreiten. Man sieht das heute in Russland. Putins Macht beruht auf Lügen und Propaganda. Die meisten Russen haben keinen Zugang zu unabhängigen Informationen – zum Beispiel darüber, was in der Ukraine passiert.
Die Klimabewegung, die ja vor allem aus jungen Menschen besteht, traut der Demokratie auch nicht viel zu. Sie sagen: Hier sind die Fakten, handelt entsprechend. Aber das Wesen der Demokratie ist der Meinungsstreit, der Kompromiss.
Es gibt Meinungsumfragen, die besagen, dass junge Menschen Vertrauen in die Demokratie verloren haben. Und was in den vergangenen 15, 20 Jahren in der Welt passiert ist, ist ja auch nicht sehr vertrauenserweckend. Es gab den Irak-Krieg, den Krieg in Afghanistan, ökonomische Verwerfungen, Brexit und Donald Trump. Und sie sehen tatsächlich, dass die Demokratie es nicht schafft, die Dinge anzusprechen, die sie für wichtig halten. Es stimmt, dass Demokratien nicht den einen richtigen Weg vorgeben. Aber sie müssen ein System errichten, in dem Menschen ihre Meinungsverschiedenheiten lösen können. Autokratien stehen auch unter Druck. Sie müssen ökonomisch liefern. Und sie haben ein Problem mit Korruption.
Sie haben das, was in der Ukraine passiert, als einen Weckruf bezeichnet. Was meinen Sie damit?
Viele im Westen haben die wahre Natur Putins lange nicht verstanden. In den vergangenen 15 Jahren hat er Russland viel unfreier gemacht, er hat in Tschetschenien oder Syrien blutige Taktiken angewendet, er ist nach Georgien eingedrungen, in die Krim, den Donbass. Und jetzt ist er in der Ukraine. Man hätte sich längst von der Vorstellung verabschieden müssen, dass er jemand ist, mit dem man zusammenarbeiten kann. Aber jetzt ist es so weit. Und die Menschen in der Ukraine kämpfen dafür, dass sie nicht unter Putin leben müssen. Sie erinnern uns daran, worum es bei der Demokratie geht. Ich hoffe, dass dies als Botschaft verstanden wird. Die Demokratie ist ein fragiles System, das beschützt werden muss.
Was halten Sie von der Reaktion der westlichen Länder?
Im Großen und Ganzen ermutigen mich die harten Sanktionen. Der deutsche Kanzler hat angekündigt, die Abwehr zu stärken. Sogar ein Land wie die Schweiz, das immer auf seine Neutralität gepocht hat, hat sich zu Sanktionen durchgerungen. Wobei es auch sehr wichtige Länder gibt, die tatenlos zusehen. Indien zum Beispiel. Und es gibt auch eine zynische Haltung dem Westen gegenüber: Um Syrien habt ihr euch nicht gekümmert, oder um den Sudan. Ich verstehe das. Trotzdem muss man die Ukraine jetzt unterstützen.
Apropos Zynismus: Alle sind zu den Olympischen Spielen nach Peking gefahren.
Es ist schrecklich, dass das Internationale Olympische Komitee China ausgewählt hat, obwohl es offensichtlich ist, dass es etwa in der Provinz Xinjiang einen Genozid gibt. Wie kann man in einem solchen Land Olympische Spiele veranstalten? Ich denke da an 1936 zurück. Auf lange Sicht ist China eine sehr ernste Herausforderung für die Demokratie, weil die Regierung zum Beispiel effektiv das Wirtschaftswachstum fördert. Leute wie Putin, Orban oder der chinesische Präsident Xi Jinping, die versprechen, Probleme zu lösen, die Züge zu fahren und die Wirtschaft florieren zu lassen, strahlen einfach eine gewisse Anziehungskraft aus. Aber auf lange Sicht führt wohl die Freiheit zu besseren ökonomischen Resultaten. Ich sage nicht, dass die USA perfekt sind, aber sie verfügen über ein dynamisches System, in dem Menschen wie Barack Obama oder Bill Clinton, die beide aus bescheidenen Verhältnissen stammen, Präsident werden können. Oder in dem ein Flüchtling wie Madeleine Albright Außenministerin der USA werden kann. Die Leute wollen nicht nach Russland gehen, um ihren Weg zu machen. Sie wollen in die USA oder nach Deutschland.
Freiheit ist vielleicht nicht nur besser für die Wirtschaft, sondern ein Wert an sich, oder?
