Fehler passieren. Das kommt vor, gerade in einem von Schnelligkeit und Klicks getriebenen Berufsfeld wie dem Journalismus. Was bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zuletzt unter dem Titel „Doppelstandard für den Frieden“ veröffentlicht wurde, hat mit einfachen Fehlern allerdings nicht viel zu tun. Der Text wirkte eher wie das Ergebnis einer strukturellen Befangenheit bezüglich israelischer Politik, wie sie in mehreren deutschen Redaktionen vorherrscht. Er liest sich zudem, auch das sollte nicht unerwähnt bleiben, wie ein Versuch der Normalisierung eines ideologischen Gedankengebäudes, das in Deutschland noch relativ unbekannt ist: des konservativ-christlichen Zionismus. Dass die FAZ sich jüngst entschieden hat, den Text online durch eine Korrektur zu ersetzen, ist – im Sinne der publizistischen Transparenz – ein sehr gutes Zeichen. Im deutschen Medienkontext ist so ein Schritt nicht selbstverständlich.
In einem Brief an die FAZ-Redaktion vom Donnerstag schaltete sich nun auch der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, in die Diskussion um den Text ein und beschwerte sich über das Vorgehen der Redaktion. Er betonte, dass es „kein Zufall“ sei, dass ausgerechnet dieser Text offline genommen wurde und insinuierte, dass damit an Israel ein doppelter Standard angelegt würde. „Sie ertragen nicht, wenn in Ihrem Feuilleton steht, dass vielleicht nicht Israel den Frieden im Nahen Osten verhindert, sondern die sonst so unschuldigen Palästinenser“, so Prosor. Er seinerseits freue sich auf weitere Beiträge des FAZ-Autors zu Israel.
Mehrere Fehler, manche davon gravierend
Der Text, der von einer angeblich doppelbödigen Haltung der EU gegenüber Israel berichtete, enthielt der veröffentlichten Eigenkorrektur zufolge über zehn Fehler. Darunter etwa die historisch falsche Behauptung, Israel sei einst bereit gewesen, das 1967 besetzte Westjordanland „zu räumen“. Oder die inakkurate Rede von einem „Verteidigungskrieg [Israels] gegen die Palästinenser“. Entkräftet wurde auch die Behauptung, die palästinensische Führung habe sich von Anbeginn der Besatzung 1967 (bis heute) geweigert, in territoriale Verhandlungen mit Israel einzutreten. Dass sich die PLO im Oslo-Prozesses durchaus zu einem Kompromiss palästinensischer Souveränität entlang der Grenzen von 1967 (auch als „Zwei-Staaten-Lösung“ bekannt) bereit zeigte, fand keine Erwähnung.
Auch, dass palästinensischer Privatbesitz im Westjordanland von Siedlungspolitik „unberührt“ bleibe, ist falsch. Tatsächlich sind die Enteignung privaten, palästinensischen Landes und die Zerstörung von Häusern Hauptgründe für die internationale Ächtung israelischer Besatzungspolitik. Letztere wird sich unter Israels neuer Regierung, die in ihrem Programm Anspruch auf palästinensisches Land erhebt und dessen verstärkte Besiedlung angekündigt hat, wohl noch verschärfen.
Eine Studie christlicher Fundamentalisten
Als Grundlage des Textes empfahl der Autor des FAZ-Textes eine Studie mit dem Titel „Two States for Two Peoples?“. Was aus der Korrektur allerdings nicht klar ersichtlich wurde: um was für eine Studie es sich hierbei handelt. Sie stammt von Wolfgang Bock und Andrew Tucker. Im Text wird Tucker als „Rechtswissenschaftler“ und Autor der Haager Initiative für internationale Zusammenarbeit (Thinc) vorgestellt. Seine Aufgabe sei es, Politiker zum Nahost-Konflikt zu beraten.
Unerwähnt bleibt, dass es sich bei Thinc tatsächlich um eine hochtendenziöse Plattform handelt, die von Tucker selbst geleitet wird. Und dass Tucker, der sich auch regelmäßig aus einer „biblischen Perspektive“ mit Israel auseinandersetzt, nebenbei als Direktor der Christians for Israel International tätig ist und damit an mehreren Stellen als Vertreter eines konservativ-christlich Zionismus in Erscheinung tritt. Letzteres sollte doch mindestens stutzig machen. Immerhin wird Israels Siedlungsprojekt zum Teil von christlichen Fundamentalisten (insbesondere von Trump-nahen US-Evangelikalen) mitfinanziert.
Viele von ihnen imaginieren – das ist kein Witz – eine antisemitische Endzeitvision, wonach Juden Israel besiedeln sollen, in der Hoffnung, dass dies die Wiederkehr des Erlösers Jesu Christi befördern würde. Ein großer Teil der in Israel lebenden Juden würde dieser Vorstellung folgend dann zum Christentum konvertiert. Juden, die dazu nicht bereit sind, kämen direkt in die Hölle. Der Dokumentarfilm „Til Kingdom Come“ der israelischen Regisseurin Maya Zinshtein zeigte zuletzt eindringlich, welch massiven Einfluss radikalisierte, evangelikale Kräfte in der jüngeren Vergangenheit auf die US-Nahostpolitik nehmen.
Tucker selbst veröffentlicht auf Thinc Beiträge, wo es etwa heißt, „die meisten, wenn nicht gar alle israelischen Siedlungen (…) und die Politik der israelischen Regierung, die sie fördert“, seien legal. In einem Positionspapier von 2017 behauptet er, schon die Bezeichnung der israelischen Besatzung des Westjordanlandes als Besatzung sei falsch. Das Wort „palästinensisch“ wird bei Tucker nicht selten in Anführungszeichen gesetzt – wohl, um anzuzeigen, dass die Daseinsberechtigung dessen, was es bezeichnet, in seinen Augen umstritten ist.
Diese Studie ist alles andere als objektiv
Wer sich die 27-seitige Zusammenfassung der Studie „Zwei Staaten für zwei Völker?“ durchliest, die die Grundlage des FAZ-Textes bildete, stößt immer wieder auf krude Verallgemeinerungen. So heißt es etwa, palästinensische politische Institutionen belohnten „aktiv die Tötung von Juden“. Welche Institutionen gemeint sind, ist nicht ersichtlich. Tucker und Bock betonen auch mehrfach, Israel habe nach internationalem Recht keine Verpflichtung, die 1967 besetzten Gebiete „abzutreten“ oder seine Militärverwaltung über sie aufzugeben. Ost-Jerusalem gehöre zum „Teil des souveränen Territoriums des Staates Israel“.
Die internationale Gemeinschaft sieht dies bekanntlich anders. Israels Siedlungspolitik verstößt den Vereinten Nationen zufolge gegen Artikel 49 der Vierten Genfer Konvention. Auch aus Sicht des Auswärtigen Amts verstoßen die Siedlungen in den besetzten, palästinensischen Gebieten gegen geltendes Völkerrecht. Ein Bericht der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom Herbst letzten Jahres kommt zu dem Schluss, die Besatzung selbst sei völkerrechtswidrig – aufgrund ihres (über 55 Jahre) andauernden Status; und aufgrund der De-facto-Annexion palästinensischen Landes.
Sallux wiederum, die Stiftung, unter deren Federführung Tuckers und Bocks Studie herausgegeben und die zur Europäischen Christlichen Politischen Bewegung (ECPM) gehört – ein in Ungarn entworfenes, europäisches Parteienbündnis – ist gelinde gesagt alles andere als objektiv. Im Europaparlament steht die ECPM der Fraktion der Europäischer Konservativer und Reformer (EKR) nahe, der bis 2016 auch Beatrix von Storch angehörte. Sallux listet unter seinen „Partnern“ etwa die World Evangelical Alliance, die in der Vergangenheit mit einem Dekret in Erscheinung trat, das Juden nahelegte, zum Christentum zu konvertieren.
Ein Bericht zum Einfluss der christlichen Rechten des European Parliamentary Forum for Sexual & Reproductive Rights (EFP) vom Juni 2021 listet Sallux und ECPM in einer Liste an Sponsoren, die jährlich sehr viel Geld dafür ausgeben, „Gender“ als verbindendes, politisches Feindbild zu etablieren. Sallux und ECPM gelten mit über 8 Millionen US-Dollar (über einen Zeitraum von zehn Jahren) als zweitgrößter Spender von Anti-Gender-Kampagnen in Europa.
So bewerben Sallux und ECPM beispielsweise die sogenannte Reintegrationstherapie – ein Rebranding der homophoben Konversionstherapie, das homosexuelle Menschen in die Heterosexualität „zurückintegrieren“ soll. ECPM sponserte etwa auch den Anti-LGBT-Gipfel der „Agenda Europe“ – ein Netzwerk‚ das sich die „Wiederherstellung der natürlichen Ordnung“ auf die Fahnen geschrieben hat. Es ist nicht ohne eine gewisse Ironie, dass Sallux und ECPM von der EU jährlich Zuwendungen in Millionenhöhe erhalten – immerhin war es deren Arbeit, die im FAZ-Text als Grundlage der dort formulierten Kritik an einer vermeintlichen Doppelmoral der EU diente.
Eine falsche Form von Normalisierung
Was in Deutschland letztlich noch nicht richtig angekommen zu sein scheint: Pro-israelischer Nationalismus und Antisemitismus schließen sich nicht zwingend aus. Das zeigt nicht nur das Beispiel so mancher christlich-fundamentalistischer Zionisten. Historisch wurde die zionistische Bewegung in Europa in ihren Anfängen teils auch von Christen unterstützt, die einen jüdischen Staat befürworteten, weil sie fürchteten, Juden würden die „ethnische Homogenität“ ihrer Heimatländer untergraben. Diese antisemitische Tradition ist in Europa bis heute lebendig. Nicht selten koppelt sie sich an eine zynische Bewunderung für Nationen wie Israel, wo ethnische Homogenität politisch immer wichtiger wird – fraglos wichtiger ist als staatsbürgerlich verbürgter Pluralismus.
Das Beispiel Ungarn ist hier paradigmatisch: Als sich der jüdische Philanthrop George Soros 2017 gegen Viktor Orbáns Vorstoß stellte, Ungarns Grenzen für muslimische Geflüchtete zu schließen, ließ Ungarns Regierung landesweit Soros’ Gesicht mit den Worten „Lasst George Soros nicht zuletzt lachen“ plakatieren. Eine Jugendorganisation der Fidesz-Partei verbreitete daraufhin eine nazihafte Karikatur, die Soros als mächtigen Puppenspieler darstellte. Später verschärfte Orbán seine Anti-Soros-Rhetorik: „Wir kämpfen gegen einen Feind, der anders ist als wir“, sagte er in einer Wahlrede 2018. „Er ist nicht offen, sondern versteckt; er ist nicht direkt, sondern verschlagen (…) er ist nicht national, sondern international; er glaubt nicht an Arbeit, sondern spekuliert mit Geld; er hat keine eigene Heimat, sondern glaubt, dass ihm die Welt gehört.“ Trotz derartiger Aussagen gilt Orbán heute als einer der treusten Verbündeten Israels.




