Seit 2011 ging es immer aufwärts für Netflix, Quartal für Quartal, in Millionenschritten. Ende 2020 knackte der Streaming-Anbieter die 200-Millionen-Grenze bei den globalen Abonnements, noch im vergangenen Quartal kamen über acht Millionen neue Nutzer hinzu. Dann folgte die Ernüchterung: Bis März hat sich die Zahl der Kunden erstmals seit elf Jahren verringert. 200.000 Menschen weniger als noch Ende 2021 abonnieren aktuell den Streamingdienst. Im Hinblick auf die Gesamtzahl eine verschwindend geringe Zahl – zumal wenn man bedenkt, dass Ende März allein 700.000 Accounts wegfielen, weil die Firma entschied, ihr Angebot in Russland einzustellen. Anleger lassen sich von solchen Relativierungen freilich selten überzeugen, die Aktie sackte am Tag der Verkündung der Quartalszahlen um 35 Prozent ab. Bis heute hat sie seit Jahresbeginn ungefähr 70 Prozent an Wert verloren.
Am vergangenen Dienstag gab das Unternehmen dann Konsequenzen bekannt: 150 Mitarbeiter müssen gehen. Seit dem vergangenen September hat die Firma auch ein Büro in Berlin, am Warschauer Platz. Die Antwort auf die Frage dieser Zeitung, ob auch dieser Standort von den Kündigungen betroffen ist, blieb vage: man verwies auf das offizielle Statement, laut dem die Entlassungen vorrangig die USA beträfen.
Dass der dekadenlange Höhenflug spätestens mit dem Ende der Corona-Restriktionen ein Ende haben musste, war eigentlich klar. Menschen geben wieder mehr Geld für andere Dinge aus, verbringen weniger Zeit zu Hause. Dazu kommen nun noch der Ukraine-Krieg, die Inflation und auch eine stetig wachsende Konkurrenz. In Deutschland liefern sich Amazon Prime und Netflix schon lange ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das Netflix im vergangenen Quartal mit einem Prozentpünktchen verlor – wobei bedacht werden muss, dass Amazon sein Streaming-Angebot in Kombination mit anderen Services anbietet, zum Beispiel kürzeren Lieferzeiten. Nicht jeder, der Prime-Video-Inhalte schauen kann, hat sein Abo also auch deshalb abgeschlossen und nutzt es folglich auch nicht unbedingt dafür. Auf dem dritten Platz der Streamer liegt in Deutschland Disney+ mit zwölf Prozent Marktanteil.
Interne Dramen und Masse statt Klasse
Ob es zusätzlich zu den äußeren Faktoren auch interne Gründe für die „Probleme“ des Unternehmens gibt, darüber wird branchenintern viel spekuliert. Laut Recherchen des Fachmediums The Hollywood Reporter wurde schon seit Jahren konfliktreich um die richtige Strategie bei der Auswahl und Produktion von Inhalten gerungen. Cindy Holland, die als Vice President for original Content mit Titeln wie „House of Cards“, „Orange is the New Black“ und „Stranger Things“ die DNA von Netflix mitgestaltete und so entscheidend zum globalen Erfolg des Anbieters beitrug, wurde Ende 2020 von dem frischgebackenen CEO Ted Sarandos geschasst. Angeblich nachdem sie ihn mehrfach kritisiert hatte, unter anderem für seine Strategie, das Angebot deutlich breiter aufzustellen, weg von mitunter sehr teuren Titeln für ein vermeintliches Nischenpublikum. „Das Damengambit“ war Hollands letztes, laut Hollywood Reporter intern belächeltes, Herzensprojekt. Im Erscheinungsmonat wurde die Serie über eine drogenabhängige Schachmeisterin in 62 Millionen Haushalten geschaut, und sie gewann elf Emmys.
Ob es mit Hollands Abgang zu begründen ist, sei dahingestellt, doch tatsächlich lässt sich kaum abstreiten, dass sich im Angebot von Netflix etwas verschoben hat. Die großen Serientitel, die von Kritikern und Zuschauern gleichsam bejubelt wurden, sind ausgelaufen oder in den letzten Zügen, „Squid Game“ bildet hier die Ausnahme. Die zweite Staffel des neuen Klickrekordhalters „Bridgerton“ ist aufgeplusterter Eskapismus, der zweifellos seine Daseinsberechtigung hat, der Qualitätsmarke Netflix aber einen anderen Anstrich gibt. Gleiches gilt für die Reality-TV-Offensive mit Titel wie „Love is Blind“, „Selling Sunset“ oder „Finger weg!“. Die Kuratierung der Inhalte und die Art ihrer Präsentation für die Zuschauer, von jeher eine der größten Herausforderungen aller Streaming-Dienste, ist durch die breitere Content-Strategie noch mal erschwert worden.
Was plant Netflix, um das Ruder herumzureißen?
Um wieder auf den intern definierten Erfolgskurs zurückzufinden, gibt es im Unternehmen verschiedene Pläne.
Netflix schätzt, dass rund 100 Millionen Haushalte das Angebot nutzen, ohne dafür zu zahlen, zum Beispiel indem sie sich einfach mit den Benutzerdaten von Freunden einloggen. Das soll in Zukunft erschwert werden, wie genau, ist noch nicht bekannt. Der Netflix-Gründer Reed Hastings hat allerdings neue Angebote angekündigt, die es für wenig Geld möglich machen sollen, Accounts zu teilen. In der Folge wolle die Firma ihren Erfolg weniger an den Abo-Zahlen und mehr an den Umsätzen messen.
Zudem denkt Netflix laut dem amerikanischen Branchenmagazin Deadline über Live-Ausstrahlungen nach, was im aktuellen Streaming-Bereich tatsächlich eine kleine Revolution darstellen würde – bildete das Angebot bislang doch gerade das Gegenmodell zum klassischen Fernsehen mit linearen Erzählungen und Live-Formaten. Es ist ein klares Signal, dass die Grenzen in der sich wandelnden Medienlandschaft weiterhin fließend sind.
Live sollen laut Deadline zunächst Stand-up-Shows übertragen werden, es sei allerdings in Zukunft auch denkbar, die Zuschauer in Echtzeit mitentscheiden zu lassen, zum Beispiel über den Verlauf von Reality-Shows – so wie es im Fernsehen seit Jahrzehnten gängige Praxis ist.
Auch Werbung schließt Hastings nicht länger aus. Man ziehe ein neues Abo-Modell in Erwägung, das günstiger ausfällt, wenn sich Zuschauer Werbung anzeigen lassen. Ein weiterer kleiner Tabubruch – wurden Netflix-Titel in der Vergangenheit doch auch dafür gefeiert, dass sie in Serien eine neue Art von Dramaturgie ermöglichten, welche sich, anders als im TV, um Werbepausen nicht scheren musste.





